© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

„Damit ist die Grenze überschritten“
Unter Führung von Karl Albrecht Schachtschneider und Wilhelm Hankel klagen vier Professoren in Karlsruhe gegen den ESM-Vertrag
Moritz Schwarz

Herr Professor Schachtschneider, warum muß der ESM in Karlsruhe scheitern?

Schachtschneider: Vor allem, weil er die Grenze zum EU-Bundesstaat überschreitet, also mit der nationalen Souveränität unvereinbar ist.

Und warum ist das ein Problem?

Schachtschneider: Deutschland ist der Staat des deutschen Volkes seit 1871. Dieser Staat ist souverän. Er kann nicht Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates sein, ohne seine Souveränität aufzugeben oder zumindest einzuschränken, wie das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil vom Juni 2009 klargestellt hat.

Warum? Die deutschen Bundesländer etwa sind nicht souverän und dennoch Staaten.

Schachtschneider: Das erstere ist streitig. Die Souveränität der Länder, die nach innen und außen wirkt, wird meist bestritten. Ich sehe das anders. Das Verfassungsgericht hat die Eigenstaatlichkeit und Souveränität Deutschlands immer anerkannt und seinen Entscheidungen zugrunde gelegt. Sie gehört nach Artikel 20 des Grundgesetzes zur „Verfassungsidentität“ Deutschlands, die solange gewahrt bleiben muß, wie die Deutschen das wollen, sprich, solange das Grundgesetz nicht durch ein in einer Volksabstimmung beschlossenes neues Verfassungsgesetz, das sich für einen europäischen Staat öffnet, ersetzt ist.

Und warum widerspricht das dem ESM?

Schachtschneider: Weil mit dem ESM im Verbund mit dem Fiskalpakt und den weiteren Euro-Rettungsmaßnahmen wesentliche weitere Hoheitsrechte zu den weiten und offenen Ermächtigungen, die die Union schon hat, auf diese übertragen werden.

Das ist in der EU doch nichts Neues.

Schachtschneider: Aber jetzt wird ein großer Teil des Budgets der Verantwortung der Legislative – des Parlaments – entzogen und einer demokratisch in keiner Weise legitimierten Exekutive überantwortet, nämlich dem Gouverneursrat, das sind die Finanzminister der ESM-Mitglieder. Das Budget des Staates ist im „Wirtschaftsstaat“ Kern demokratischer Verantwortung und schon immer Königsrecht des Parlaments. Außerdem wurde schon eine Wirtschaftsregierung geschaffen, und insgesamt wird die Finanzhoheit und damit auch die Sozialhoheit wesentlich eingeschränkt.

Der Bundestag verabschiedet in diesem Jahr einen Haushalt in Höhe von über 300 Milliarden Euro. Warum darf er nicht, wie am letzten Freitag geschehen, beschließen, daß im Notfall eben 190 Milliarden davon in die Euro-Rettung fließen?

Schachtschneider: Weil das eine nicht refinanzierbare Summe ist, die weitgehend in Anspruch genommen werden wird, wenn andere ESM-Mitglieder ihren Beitrag nicht werden leisten können. Dann bleibt nämlich laut ESM-Vertrag die Finanzierung des abrufbaren ESM-Kapitals Sache der leistungsfähigen Staaten, freilich nur im Rahmen der jeweiligen Gewährleistung. Die Gesamtsumme geht noch gar nicht in den Haushalt ein, weil zunächst nur 22 Milliarden eingezahlt werden, der Rest von 168 Milliarden wird erst einmal nur gewährleistet. Auch wenn der Kapitalmarkt keine Kredite mehr zu tragbaren Kosten gibt, bleibt die Verpflichtung bestehen. Unser Staatshaushalt kann das keinesfalls bewältigen. Im übrigen würde das Geld nicht zur Finanzierung unserer Ausgaben, sondern zur Finanzierung fremder Staaten verwendet. Das ist souveränitätswidrig.

Aber das haben die Konstrukteure des ESM doch sicher bedacht?

Schachtschneider: Eher nicht. Die Souveränitätsfrage ist jetzt deren Hauptproblem. Deshalb wird jetzt von Volksabstimmung gesprochen. Ich meine aber, daß es – trotz aller Einwände – nicht die Haushaltsfrage sein wird, die das Bundesverfassungsgericht dazu bewegen wird, den ESM-Vertrag zu verwerfen.

Warum nicht?

Schachtschneider: Weil das Gericht auch schon den temporären Euro-Rettungsschirm EFSF nicht hat scheitern lassen. Der einzige Unterschied ist im Grunde nur, daß der ESM permanent ist. Aber ob das ausreicht, das Gericht zu einer besseren Erkenntnis zu bewegen, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube, die Schlacht wird nicht um den Haushalt, sondern um die Souveränität geschlagen.

Was bedeutet?

Schachtschneider: In unseren bisherigen Klagen haben wir darauf gedrängt, das Gericht möge anerkennen, daß die EU nicht legitimatorisch, aber funktional – also in ihren Befugnissen und Aufgaben – längst ein Bundesstaat ist. Denn damit wäre Deutschland nur noch ein Gliedstaat, was die Verfassung der Deutschen, das Grundgesetz nicht zuläßt.

Das Bundesverfassungsgericht hat aber immer wieder bestätigt, daß die EU eben kein Bundesstaat ist.

Schachtschneider: Richtig. Aber bereits das Lissabon-Urteil hat eingeräumt, die EU sei nun „beinahe“ ein Bundesstaat. Verfassungsrichter Udo di Fabio sagte in der mündlichen Verhandlung: „Die EU segelt hart am Rande des Bundesstaates.“ Nun kommt diese permanente Finanzintegration durch den ESM und die anderen Euro-Rettungsmaßnahmen dazu. Jetzt wird das Gericht einräumen müssen, daß die Grenze zum Bundesstaat überschritten ist. Diese Frage wird der Kern des Prozesses sein.

Der „Münchner Merkur“ schreibt: „Wenn Historiker eines Tages darüber sinnieren, wann Deutschland als souveräner Staat aufgehört hat zu existieren und die Metamorphose in ein Bundesland der Vereinigten Staaten von Europa begann, dann dürfte ihr Blick auf den Tag der Verabschiedung des ESM-Vertrags fallen.“

Schachtschneider: Völlig richtig. Wir leben längst im entdemokratisierten Unionsstaat. Die politische Union ist weit entwickelt. Sie bedarf der Legitimation durch ein Unionsvolk oder muß gänzlich neu gestaltet werden. Dafür bin ich, für ein europäisches Europa, ein Europa der Vaterländer, das, völkervertraglich verbunden, in Frieden und Freiheit zusammenlebt. Und nicht für ein Europa einer von der Finanzindustrie bestimmten bürokratischen Diktatur, das mit dem langgezogenen Staatsstreich ertrotzt werden soll, und langfristig mittels Wahlen der weitgehend verarmten Bevölkerung in einen sozialistischen Staat ohne Völker umgewandelt wird. Aber genau das wird solange Maxime der Unionspolitik sein, wie diese nicht unterbunden wird.

 

Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider Der Staatsrechtler (72) lehrte in Berlin, Hamburg und Erlangen.

 

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