© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

Lockerungsübungen
Bibliophilie hinter Gittern
Karl Heinzen

Brasiliens Gefängnisse gelten als hoffnungslos überfüllt, und zudem sind die meisten Häftlinge nur unterdurchschnittlich gebildet, was ihre spätere Reintegration in Gesellschaft und Arbeitswelt erschwert.

Beide Probleme zugleich soll nun das Programm „Erlösung durch Lesen“ mildern, das Strafgefangenen die Chance bietet, durch die intensive Beschäftigung mit einem philosophischen, wissenschaftlichen oder anspruchsvollen literarischen Werk die Haftzeit zu verkürzen. Für die Lektüre eines derartigen Buches werden vier Wochen eingeräumt, der Nachweis über die geistige Auseinandersetzung mit diesem ist durch einen auch formal und orthographisch überzeugenden Aufsatz zu führen. Im Erfolgsfall werden dem Straftäter vier Tage seiner Resthaftzeit erlassen, bis zu zwölfmal pro Jahr kann er von diesem Angebot Gebrauch machen.

Vorerst wird das Programm zwar auf vier brasilianische Bundesgefängnisse beschränkt bleiben, deren Insassen nur zu kurzen Haftstrafen verurteilt wurden. Seine Erfahrungen dürften jedoch weltweit Beachtung finden – und zwar nicht nur dort, wo über eine Reform des Strafvollzuges nachgedacht wird. „Erlösung durch Lesen“ könnte vielmehr zur Initialzündung für eine Rückbesinnung auf das Humboldtsche Bildungsideal insgesamt werden.

Ausgerechnet wir Deutschen haben es in den vergangenen Jahren hingenommen, daß an Schulen und Universitäten eine berufsnahe Ausbildung immer stärker in den Mittelpunkt gerückt ist. Nur noch das, was sich später im Erwerbsleben nutzen läßt, zählt, alles übrige ist Ballast. Erziehung, Allgemeinbildung, das Nachdenken über Werte und Kritikfähigkeit sind immer mehr in den Hintergrund getreten. Nun kommen ausgerechnet die angeblich so materialistischen Brasilianer daher und belehren uns eines Besseren: Was nützen uns Spezialisten, die ihren Beruf beherrschen, wenn ihnen der Sinn fürs Ganze abgeht? Gerade Strafgefangene, die die Regeln der Gemeinschaft schon einmal verletzt haben, brauchen eine reflektierte erweitere Weltsicht, um zukünftige Fehltritte vermeiden zu können. So idealistisch dies klingt, ist es zugleich doch auch pragmatisch: Irgend jemand muß für die Gefangenen das Lektüreangebot erarbeiten und ihre Aufsätze prüfen. Hier bieten sich für Geisteswissenschaftler ungeahnte Berufsperspektiven.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen