© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

Griff in die Trickkiste
Seit Jahren streiten Verlage und Sender um das ständig wachsende öffentlich-rechtliche Internetangebot
Lion Edler

Der Internetauftritt der Tagesschau ist nicht nur die Online-Version der ARD-Nachrichtensendung, sondern bietet auch eigens recherchierte Beiträge – zum Unbehagen von Verlagen und Privatsendern, die damit den Auftrag eines öffentlich-rechtlichen Angebots überspannt sehen und Marktverdrängung fürchten. Zumal der Runkfunkstaatsvertrag doch vor Jahren festgelegt habe, daß die Produktion einer „elektronischen Presse“ für ARD und ZDF unzulässig sei.

Tatsächlich verdeutlichen die Besucherzahlen, daß das Nachrichtenportal in Konkurrenz zu anderen Zeitungen wie der Welt oder der Süddeutschen steht. Im März 2008 begann das Tauziehen um die Frage, was ARD und ZDF im Netz dürfen. Der damalige Entwurf zum 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag erteilte ARD und ZDF strenge Auflagen für das Netz. Wörtlich hieß es: „Textbasierte Angebote (Lesemedien), die über die Anstaltspräsentation hinausgehen, sind nur sendungsbezogen zulässig.“ Und weiter: „Eine elektronische Presse findet nicht statt.“ Der ARD-Vorsitzende Fritz Raff befürchtete damals, er werde „ins medientechnische Mittelalter zurückgeschickt“.

Ganz anders sah das die Konkurrenz der Zeitungsverlage und Privatsender. Christoph Fiedler, Leiter Medienpolitik im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ): „Öffentlich-rechtliche Presse ist online ebensowenig nötig wie offline“.

Der am 1. Juli 2009 in Kraft getretene Vertrag regelte das Verbot zahlreicher Online-Inhalte und enthielt die Auflage, die meisten erlaubten Inhalte nach bestimmten Zeiträumen zu löschen. So durften viele Meldungen und dafür ausgewählte Tagesschau-Beiträge nur ein Jahr im Netz bleiben, viele Tagesschau-Sendungen und das Nachtmagazin nur sieben Tage. Zeitlich unbegrenzt angeboten werden durften dagegen die Tagesschau-Sendungen um 20 Uhr, die Tagesthemen sowie Inhalte mit zeitgeschichtlicher und kulturgeschichtlicher Bedeutung.

Doch sofort begann die Suche nach Schlupflöchern. Der Rundfunkrat des Norddeutschen Rundfunks (NDR) griff in die Trickkiste und veröffentlichte im Februar ein Gutachten, welches tagesschau.de zu einem „multimedialen Angebot“ erklärte. Die Redaktion müsse daher nicht darauf achten, ob Angebote ihren Schwerpunkt in Texten haben – obwohl der Staatsvertrag „presseähnliche Angebote“ untersagt. Außerdem wurden die Mittel erhöht. So beschloß der Rundfunkrat eine Anhebung des Jahresetats von tagesschau.de um fünfzig Prozent von 4,1 auf 6,1 Millionen Euro.

Im Fokus der Kritik stehen indessen die kostenlosen „Tagesschau-Apps“, also Anwendungsprogramme für Handys, die Weihnachten 2010 von tagesschau.de eingeführt wurden und seitdem Millionen von Nutzer fanden – die Verlage kommen dagegen mit ihren kostenpflichtigen Apps allenfalls auf Zehntausende Aufrufe. Acht Verlage zogen wegen der Apps vor das Kölner Landgericht, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Verlag der Süddeutschen Zeitung und die Axel Springer AG.

Doch der Richter schloß im Oktober 2011 aus, daß die Apps generell als „presseähnlich“ und damit unzulässig eingestuft würden und empfahl eine außergerichtliche Einigung. Seitdem laufen die Gespräche. Gerüchten zufolge soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk künftig Netzangebote stärker auf Ton und Bewegtbild konzentrieren, die Verleger ihr Angebot auf Text und Fotos.

Für Kritiker stellt sich indessen die Frage, ob tagesschau.de die Gebührengelder überhaupt für objektive Berichterstattung nutzt und nutzen kann, mit der die Zwangsfinanzierung gerechtfertigt wird. Liegt nicht Objektivität durch die Auswahl der Meldungen im Auge des Betrachters?

Für Kritik in den Kommentarspalten sorgt tagesschau.de immer wieder selbst durch seine Tendenzberichterstattung. So sehen es zumindest Teile der Zuschauer. Beispielsweise erschien vor kurzem der Artikel „Kernkraftwerk Tomari für Wartung abgeschaltet – Japan ist jetzt ein Land ohne Atomstrom“. Wer die Überschrift liest, denkt, Japan sei aus der Atomenergie ausgestiegen. Im Artikel heißt es einschränkend, das Land sei, „wenn auch vermutlich nur vorübergehend, innerhalb eines Jahres faktisch aus der Atomkraft ausgestiegen“. Der Artikel schließt: „Das Ende des Atomzeitalters rückt mit dem heutigen Tag wieder ein Stück näher.“ Einziger Aufhänger des Artikels: Alle 13 Monate müssen Atomkraftwerke in Japan zu Wartungszwecken heruntergefahren werden.

„Bild-Niveau“, beklagt ein Leser: „Eine Wartungsabschaltung wird gefeiert wie ein Atomausstieg? Bitte?“ Gibt es eine Existenzberechtigung einer Online-Version von Bild, die obendrein durch Rundfunkgebühren finanziert wird, die demnächst als Kopfsteuer von jedem deutschen Haushalt eingetrieben wird?

Foto: Tagesschau-Störungsbild: Die Netzseite der ARD-Tagesschau entwickelt immer mehr Eigenständigkeit

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