© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Euromanie als Lebenslüge
ESM: Der frühere Regierungssprecher Ulrich Wilhelm wirft sich mit einer Zeitungsanzeige für die Europapolitik der Kanzlerin in die Bresche
Ulrich Sauer

Der Journalist Ulrich Wilhelm (CSU), seit 2005 Sprecher der Bundesregierung und einer der engsten Vertrauten von Bundeskanzlerin Angela Merkel, verabschiedete sich 2010 aus der Berliner Politik, um als Intendant an die Spitze des Bayerischen Rundfunks zu treten. Mit einem dramatischen, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. Juli veröffentlichten, ganzseitigen Appell („Gebt Souveränität ab!“) ist er am vergangenen Wochenende nun noch einmal seiner europapolitisch schwer in Bedrängnis geratenen Ex-Chefin zur Hilfe gekommen.

Inhaltlich hat Wilhelm selbst in dieser hochdramatischen Lage, die den immer mehr an Stanley Kubricks Dr. Seltsam erinnernden Wolfgang Schäuble nach dem Abschied vom Grundgesetz per Volksabstimmung rufen läßt, nicht viel zu bieten. Auch er fordert getreu alter christdemokratischer und christlich-sozialer Wahlkampfrhetorik („Europa ist unsere Zukunft“) die Flucht aus dem Nationalstaat zugunsten der politischen Union.

Den fehlenden Neuigkeitswert macht Wilhelms Pamphlet aber hinreichend dadurch wett, daß es in dankenswerter Kürze die so erschütternde wie gefährliche Dürftigkeit der bundesdeutschen Europaideologie auf wenigen Zeitungsspalten dokumentiert. Wilhelms Agitation, die siegessicher für eine Volksabstimmung wirbt, bei der man „eine Mehrheit in Deutschland“ für die Preisgabe nationaler Souveränität  gewinnen werde, stützt sich auf jeweils nur ein historisches und ein geopolitisches Argument – wenn man ihm diesen Begriff für seine demagogischen Auslassungen einmal generös zugesteht.

Ohne die „Einbettung in die EU“, so lautet seine historische Herleitung, wäre die deutsche Einheit nicht gelungen. Das ist pure Geschichtsfälschung, denn die Einheit wollten Helmut Kohls „Freunde“ in London und Paris eher verhindern oder verzögern. Und auf Resteuropa kam es ohnehin nicht an. Gelungen ist sie darum nur, weil der „Kanzler der Einheit“ grünes Licht aus Washington und Moskau erhielt. Mit der EU hatte das Ganze also wenig bis nichts zu tun.

Geopolitisch konfrontiert Wilhelm sodann Euroskeptiker mit der Frage, ob ein Zurück zu mehr Nationalstaat die großen Probleme der Weltgesellschaft lösen könne. Getreu des Brüsseler Katechismus seiner politischen Klasse betet der CSU-Mann herunter: „Überall in der Welt“ erführen Nationalstaaten, daß sie aus eigener Kraft Sicherheit, Wohlstand, Umweltschutz und Frieden nicht garantieren können. Das ist ebenso offenkundig falsch wie einst das Moskauer Dogma, dem Sozialismus gehöre die Zukunft. Richtig ist vielmehr das exakte Gegenteil: Die Welt besteht ausschließlich aus Nationalstaaten, die internationale Probleme bi- oder multilateral regeln, ohne sich deswegen als Nationalstaaten auflösen zu müssen. Man hat wenigstens noch nie gehört, daß China und Japan, Indien und Pakistan oder Israel und seine arabischen Nachbarn zwecks Regelung ihrer politischen, ökonomischen oder strategischen Konflikte das Heil in einer politischen Union zu suchen gedenken. Auch in Europa nehmen die zentrifugalen Kräfte zu: In Schottland bereitet man sich auf die nationale Unabhängigkeit vor, in Großbritannien hat eine bald mögliche Volksabstimmung über den EU-Austritt gute Erfolgschancen. Das Phantasma von der „Überforderung“ des Nationalstaates ist eine europäische Besonderheit, vor allem aber eine fixe Idee und „Lebenslüge“ der bundesrepublikanischen Nomenklatura. Ohne die Euromanie als eine solche Lebenslüge zu durchschauen, ahnt Wilhelm aber wenigstens: „Leider rächen sich Lebenslügen immer.“ Weil es – und die 20jährige Geschichte des Euro seit Maastricht ist für diese alte Weisheit Theodor W. Adornos ein schmerzliches Exempel – auf Dauer eben kein richtiges Leben im falschen gibt. Oder weniger poetisch formuliert: Am Ende gewinnt immer die Wirklichkeit.

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