© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Ein zweites Afghanistan
Mali: Radikale Islamisten, Tuareg-Rebellen und die neue Putschregierung lassen das Land im Chaos versinken
Marc Zöllner

Nach der Zerstörung mehrerer antiker Heiligtümer durch islamistische Rebellen in der historischen Innenstadt Timbuktus herrscht weltweites Entsetzen. Dutzende, teilweise über fünfhundert Jahre alte Gräber vorwiegend dem Sufismus angehöriger Prediger seien bislang geschändet worden, berichteten Einheimische, darunter auch das Mausoleum des islamischen Gelehrten Sidi Mahmoud, eines der berühmtesten Wahrzeichen der Stadt. „Selbst der Friedhof“, erzählt Abdoulaye Boulahi, ein örtlicher Lehrer, der New York Times, „wurde planiert wie ein Fußballfeld.“

Unabhängige Bestätigungen existieren nicht. Nur wenige Einwohner besitzen noch funktionierenden Mobilfunk, ausländische Nachrichtenagenturen haben den Norden Malis aufgrund der anhaltenden Konflikte bereits verlassen müssen. Selbst das Umland der Städte Timbuktu, Gao und Kidal, berichten vor dem Bürgerkrieg fliehende Tuareg, wurde von den radikalen Islamisten der Ansar Dine systematisch vermint, um feindliche Konfliktparteien von deren Rückeroberung abzuhalten, sowie deren Einwohner in den Städten gefangenzuhalten.

Zu allem Schrecken scheint sich neben der kulturellen nun noch eine humanitäre Katastrophe zu gesellen. „Über 560.000 Kinder sind in Mali derzeit der Gefahr akuter Unterernährung ausgesetzt“, konstatiert die Unicef-Sprecherin Marixie Mercado. Darunter befänden sich „zwischen 175.000 und 220.000 Kinder, die lebensrettende Behandlung benötigen.“ Doch nicht nur Nahrungsmangel bedrohe den Norden Malis. „Sämtliche Schulen sind geschlossen“, so Mercado. Der Unicef lägen ebenfalls Beweise vor, daß „seit März mindestens 175 Jungen zwischen zwölf und 18 Jahren von bewaffneten Gruppen rekrutiert worden sind“.

Daß der Konflikt mit Ansar Dine über die Grenzen des Landes hinausgetragen werden könnte, befürchten nun auch Malis Nachbarstaaten. Hunderte Flüchtlinge stranden täglich bereits in mauretanischen Flüchtlingslagern. Das von der UNHCR unterstützte Camp Mbera gilt mit mittlerweile 55.000 Einwohnern als größte Stadt des östlichen Mauretanien. Weitere 60.000 Flüchtlinge, zumeist vom Stamm der Tuareg, seien bislang in Burkina Faso angekommen. Doch aufgrund der anhaltenden Dürre in der Sahelregion „könne auch dort das vorhandene Weideland den rund 150.000 von den Flüchtlingen mitgetriebenen Zuchttieren nicht genügend Futter liefern“, kommentierte das in Ouagadougou ansässige Internationale Rote Kreuz. Neben Hunger und Seuchen besteht in diesen Lagern ebenfalls die Gefahr, sie könnten wie die Flüchtlingslager an der kenianisch-somalischen Grenze von den Milizen diverser Al-Qaida-Gruppen unterwandert werden.

Überdies scheinen Verhandlungen mit Ansar Dine prinzipiell nicht möglich. Zwar besitzt die vormals mit den radikalen Islamisten verbündete MNLA, jene Tuareg-Bewegung, die im April 2012 die Abspaltung des Nordens von Mali als Republik Azawad deklarierte, mehrere Kontaktbüros in Paris und Algier. Nach ideologischen Richtungsstreitigkeiten zwischen den säkulären Tuareg und der salafistischen Ansar Dine vertrieb letztere die nomadischen Rebellen jedoch gewaltsam aus beinahe sämtlichen größeren Städten des Azawad. Der Kommandant von Ansar Dine, Iyad Ag Ghali, einst treuer Unterhändler des Tuareg-Führers Ibrahim Ag Bahanga (JF 9/09), scheut wiederum aus begründeter Angst vor Drohnenangriffen der US-Luftwaffe die Öffentlichkeit und ist nur selten bei Versammlungen in Timbuktu sowie seinem Heimatort Kidal persönlich anzutreffen.

Nach Möglichkeiten einer militärischen Intervention zur Lösung des Konfliktes sucht daher auch die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS. Doch deren Hände scheinen mehr denn je gefesselt. Nachdem bei einem Angriff von Rebellen in der Elfenbeinküste zu Beginn des Monats sieben Blauhelmsoldaten getötet wurden, zeigt sich die Uno in Fragen zur direkten Entsendung von Truppen gespalten. Lediglich die USA, Algerien sowie Frankreich als einstiger Kolonialherr des Mali signalisierten vorsichtiges Interesse.

Doch in wessen Namen überhaupt interveniert werden sollte, ist strittig, denn nicht nur Ansar Dine kämpft gegen die Zentralregierung in Bamako. Auch die Tuareg der MNLA, die nun wiederum die Salafisten bekämpfen, streben noch immer gewaltsam nach Unabhängigkeit des Azawad, und die Truppen des im April an die Macht geputschten Präsidenten Traoré liefern sich im Westen des Landes heftige Gefechte mit Anhängern seines gestürzten Vorgängers Touré. Der Bürgerkrieg im Herzen des Sahels droht, zu einem zweiten Afghanistan auszuarten.

Foto: Radikale Islamisten von Ansar Dine: Gebiete systematisch vermint

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