© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Noch-nicht-Formel
Kampf um die deutsche Reststaatlichkeit: Karlsruhes Europafreundlichkeit stößt an Verfassungsgrenzen
Tobias Kretschmann

Wie wird das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über die Klagen gegen den Fiskalpakt und den dauerhaften Rettungsmechanismus (ESM) entscheiden? Wie werden die Richter des für Staatsorganisationsfragen zuständigen Zweiten Senats unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle in dem zunächst von Bürgern und Parlamentariern angestrengten Eilverfahren entscheiden? Gewiß ist nur: Der nach der mündlichen Verhandlung vom letzten Dienstag vielleicht noch in diesem Monat zu erwartende Beschluß, der Bundespräsident Joachim Gauck daran hindern könnte, mit seiner Unterschrift die „Euro-Rettung“ der Bundesregierung in völkerrechtlich verbindliche Verpflichtungen zu transformieren, dürfte als folgenschwerste Karlsruher Entscheidung seit Bestehen des BVerfG zu bewerten sein.

In den Reihen der Bundesregierung gibt man sich betont zuversichtlich. Offensichtlich deswegen, weil auf die roten Roben europapolitisch stets Verlaß gewesen ist – wie ein beruhigender Blick zurück auf die Europa-Judikatur des Zweiten Senats seit nunmehr vier Jahrzehnten rasch lehrt. Es begann mit den wenig spektakulären Beschlüssen „Solange I“ (1974) und „Solange II“ (1986), die zwar fast beiläufig den Vorrang der nationalen vor den zwischenstaatlichen, Brüsseler Hoheitsrechten bekräftigten, die aber in der Kommentarliteratur gleichwohl als „europafreundlich“ gelten.

Erst der Vertrag von Maastricht, der die Wirtschaftskooperation von 1957 auf die höhere Integrationsebene der Europäischen Union hob, der die Vergemeinschaftung auf Außen- und Sicherheitspolitik, auf Innen- und Rechtspolitik ausdehnte und der vor allem die Tore für die Währungsunion und die halsbrecherische Einführung des Euro öffnete, zwang die deutschen Verfassungshüter zur prinzipiellen Fixierung der Grenzen jener Entstaatlichung, die Brüsseler, Bonner und Berliner Euromanen bis heute vorantreiben.

Die nun schon unter vielen juristischen Exegeten eher als „europafeindlich“ klassifizierte Maastricht-Entscheidung von 1993 fiel trotzdem zugunsten der Bundesregierung aus, weil das Verfassungsgericht mit der Masse der deutschen Kompetenzübertragungen „noch nicht“ die Entscheidungs- und Kontrollzuständigkeiten des Bundestages in Gefahr sah. Die seien mit Maastricht „noch nicht in einer Weise entleert, die das Demokratieprinzip, soweit es Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz (GG) für unantastbar erkläre, verletze. Insoweit wahre Deutschland ungeachtet weitgehender europäischer Einbindung seine „Qualität als souveräner Staat“.

In Entscheidungen, die in der breiten Öffentlichkeit weniger Aufmerksamkeit fanden, wie der Beschluß zur EU-Bananenmarktordnung (2000), die Würdigung der Bindungswirkung von Urteilen des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs (2004) und zum Europäischen Haftbefehl (2005), ist Karlsruhe dieser europafreundlichen, den auf Auflösung des Nationalstaates versessenen Kurs der Berliner Allparteienkoalition nie blockierenden Rechtsprechung treu geblieben. Für Irritationen unter Europas Musterknaben sorgte 2005 lediglich die Kassation des ersten EU-Haftbefehlsgesetzes, das erst in der 2006 nachgebesserten Fassung grundgesetzlichen Anforderungen entsprach.

Auch dieses Urteil zeugt nicht primär von antieuropäischer Karlsruher Widerborstigkeit. Aber es weist immerhin auf die jüngste Entscheidung vom 19. Juni 2012 voraus, das der Merkel-Regierung vorhielt, in der europäische Staatsschuldenkrise das Parlament ausschalten zu wollen und im Vorgriff auf die politische Union auf die „Entdemokratisierung“ des Bundestags hinzuarbeiten.

Eine ähnliche Tendenz zur Entmündigung der Volksvertreter monierten die Verfassungsrichter 2005. Nur zeigen die Verhandlungsprotokolle von damals weniger die „Anatomie einer Hintergehung“ (Christian Geyer, FAZ vom 21. Juni 2012) durch die Bundesregierung als die Selbstpreisgabe des Bundestags auf. Mußte ein zwischen Trotz und Zerknirschtheit schwankender Volker Kauder (CDU) als Vorsitzender des Rechtsausschusses sich vom Senatsmitglied Udo Di Fabio nahezu höhnisch abfertigen lassen, bei der Umsetzung des Brüsseler Rahmenbeschlusses sei keinen „Augenblick“ nachgedacht worden, bevor man EU-Vorgaben „durchgewunken“ habe.

Kauders Rechtfertigung bestätigte diesen Vorwurf, dem Gericht einen wahrhaft „schönen Einblick in die parlamentarische Praxis“ gewährt zu haben. Denn der sich auf „Zeitnot“ berufende Schwabe gestand, als Jurist und „seit 26 Jahren Strafrechtler“, sich nicht zugetraut zu haben, binnen drei Tagen „die feinen Verästelungen des Europäischen Haftbefehlsgesetzes auch nur in Ansätzen zu verstehen“. Dabei agierte der derart kapitulierende Bundestag 2005 europapolitisch noch in ruhigem Fahrwasser. Denn gemessen an der hochkomplexen Materie der seit 2010 im gefühlten Wochentakt durch das Parlament gepeitschten „Rettungsschirm“-Gesetze, die Konstruktionsplänen für ein Atomkraftwerk ähneln, mutet der EU-Haftbefehl an wie die Bauanleitung für ein Ikea-Regal.

Mit dem nächsten großen, vom Berichterstatter Di Fabio konzipierten, im Juni 2009 ergangenen Europa-Urteil zum Verfassungsvertrag von Lissabon, schien die forcierte Berliner Integrationspolitik erneuten Ansporn zu erfahren, rechtzeitig vor der Serie von „Euro-Rettungsmaßnahmen“, die Karlsruhe mit der Entscheidung vom 7. September 2011 ebenfalls abnickte. Und wieder mußte die Maastrichter „Noch-nicht“-Formel herhalten, um den Deutschen zu versichern, die Brüsseler Finanztransaktionen führten nicht zum „Substanzverlust“ ihrer verfassungsrechtlich gefügten Herrschaftsgewalt, die sie als Wahlbürger gemäß Artikel 38 Grundgesetz durch ihre Abgeordneten im Bundestag ausüben.

Gleichzeitig tat der Senatsvorsitzende Voßkuhle indes per TV- und Zeitungsinterviews kund, daß weitere Schritte Richtung politischer Union mit Artikel 23 Grundgesetz nicht mehr vereinbar wären, da die dort erteilte Ermächtigung zum Ausbau der europäischen Integration sich nur auf einen Staatenverbund erstreckt. Ein Verbund, so bekräftigte das Lissabon-Urteil, meine begrifflich lediglich eine dauerhafte Verbindung „souverän bleibender Staaten“. Da aber Fiskalpakt und ESM nun „Automatismen“ installieren, die den Bundestag definitiv entmachten und „Demokratie und Sozialstaat zerstören“ (Sahra Wagenknecht), dürften die Spielräume des Karlsruher „Kernstaatlichkeits“-Modells, das auf die zu Maastricht-Zeiten amtierenden „Etatisten“ Ernst-Wolfgang Böckenförde und Paul Kirchhof zurückgeht, ausgereizt sein.

Erkannt hat dies selbst der sozialdemokratische Herzenseuropäer Voßkuhle, ein wissenschaftlich wenig profilierter Verwaltungsrechtler und intellektuelles Fliegengewicht, das zu gern die großen Fußspuren des Staatsdenkers Böckenförde verlassen würde – am liebsten per Volksabstimmung, die ihn freilich auch als letzten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts in die Rechtsgeschichte eingehen ließe, denn in einem europäischen Superstaat braucht’s auch keine deutschen Verfassungshüter mehr.

Foto: Bundesverfassungsrichter Andreas Voßkuhle bei der Verhandlung über die Eilanträge gegen den Euro-Rettungsschirm ESM: Herzenseuropäer

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