© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Selig sind, die da Leid tragen
Revolution aus Tradition: Zum 85. Geburtstag des Dirigenten Kurt Masur
Sebastian Hennig

Welchen Komponisten sich Kurt Masur auch widmet, für ihn ist die Musik eine Frage von Herz, Verstand und Emotionen. Er verkörpert die Tradition, die Erfahrung und die ewige Wandelbarkeit der klassischen Musik in einer neuen Epoche.“ So würdigte im Herbst 2010 der Bundesverband Musikindustrie bei der Verleihung der Auszeichnung Echo Klassik das Lebenswerk des Dirigenten.

Kurt Masur wurde am 18. Juli 1927 in Brieg in Niederschlesien geboren, erlernte den väterlichen Elektrikerberuf, besuchte die Landesmusikschule in Breslau und setzte nach Kriegsende das Studium am Konservatorium in Leipzig fort. Ohne Studienabschluß beginnt er 1951 seine Dirigentenlaufbahn an Opern der Provinz und der Dresdner Philharmonie. 1960 wird er Chefdirigent an der Komischen Oper in Berlin.

Als er 1964 im Streit kündigt, fällt er steil ins kulturpolitische Abseits, dem der willensstarke Künstler sich bald wieder zu entwinden versteht. Auslandsgastspiele führen ihn quer durch Europa und bis nach Brasilien, und 1967 wird er Chefdirigent der Dresdner Philharmoniker.

Als Gewandhauskapellmeister in Leipzig tritt er 1970 das wichtigste Amt  seiner Laufbahn an. Das währt bis 1997 und ist gekennzeichnet von den unvermeidlichen Ambivalenzen eines Künstlerlebens des zwanzigsten Jahrhunderts in solch hervorgehobener Stellung. Bei der Grundsteinlegung für den einzigen Konzerthausneubau der DDR, den er maßgeblich mit befördert hatte, widmet er 1977 „den dritten Hammerschlag unserer sozialistischen Heimat“.

Hätte es in der DDR eine Liste der „Gottbegnadeten“ gegeben, sein Name wäre darauf an hervorragender Stelle zu finden gewesen. Die unzweifelhafte Symbiose mit dem Orchester wird – wie jene von Karajan und den Berlinern – werbestrategisch überformt. Masur dirigiert nicht nur die Werke, er inkarniert in seiner Person die Kunsthaltung, auf der die große Sinfonik der Klassik und Romantik beruht.

Doch verwendet er sich ebenso für Werke, die die Ausstrahlung dieser Kunst ins Aktuelle verlängern. Die Uraufführung der 3. Sinfonie von Alfred Schnittke setzt er 1981 gegen den langen Arm der Sowjetbürokratie durch, dirigiert einen kompletten Schostakowitsch-Zyklus einschließlich der offiziell mißachteten Werke. Seine künstlerischen Grundsätze lassen ihn weit in das Politische hineinwirken. Dennoch liegt seine Lebensleistung hauptsächlich im Bereich der Kunst.

„Dirigent der deutschen Revolution“ gewesen zu sein klingt wohl gewaltig. Doch weit weniger als sein Kapellmeister-Kollege Richard Wagner 1849 hat er sich aus dem Fenster gelehnt, als 1989 vor seinem Arbeitsplatz die Demonstrationen Woche für Woche umfangreicher wurden. Mit seiner weltgewandt gewordenen Stimme konnte er der Berufung zum Moderator der Ereignisse nicht entgehen. Doch dem Aufruf „Keine Gewalt“ vom 9. Oktober ist wohl eher stabilisierende als auslösende Wirkung beizulegen. Sphinxisch war auch seinerzeit die Einladung zu den Gewandhausgesprächen gehalten: „Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land.“

Das erneuerte Amt eines Staatspräsidenten der DDR zu bekleiden, ersparte ihm dann die rasche Wiedervereinigung und brachte ihm die weit angemessenere Dirigenten-Herrlichkeit über die Orchester von London, Paris und New York. Die großen Gesten in Reaktion auf politische Ereignisse hat er fortgesetzt, als er unmittelbar nach den Ereignissen des 11. September in New York das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms aufführte.

Im Frühjahr stürzte er während eines Konzerts in Paris und zog sich eine Fraktur des Schulterblatts zu. Im September will der 85jährige seinen unermüdlichen Dienst an der Kunst wieder aufnehmen. In seiner Geburtsstadt Brieg ist seit 2005 das „Kurt-Masur-Institut“ beheimatet, das unter anderem die Musikbildung von Kindern und Jugendlichen aus Brieg und Breslau unterstützt.

Foto: Kurt Masur während einer Probe in der Beethovenhalle in Bonn (2008): Ins Politische hineingewirkt

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