© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Der Westen und wir
Am Ende des Weges
Felix Dirsch

Die Beschäftigung mit der komplexen Thematik „Westen“ boomt – und das nicht nur in Deutschland. Der Haus- und Hofhistoriograph der Berliner Republik, Heinrich August Winkler, hat im Jahr 2000 eine zweibändige Darstellung des langen Weges Deutschlands nach Westen vorgelegt.

Sein Kollege Axel Schildt bejubelt schon seit längerer Zeit die „Ankunft im Westen“. Demnach nähert sich dieses Land desto mehr dem Glückszustand von westlichen Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, je weiter seine Geschichte voranschreitet. Zwischenschritt ist die Zäsur von 1945, Endstation die deutsche Einheit 1990.

Eine schöne Erzählung – spräche nicht einiges gegen sie. Um nur wenige Einwände anzuführen: Etliche ideologische Lehren, die als Ursache des deutschen Sonderwegs im 20. Jahrhundert gelten, sind im 18. wie 19. Jahrhundert in einem westlichen Land wie Frankreich stärker verbreitet.

Man nehme exemplarisch Frühformen des Nationalismus, der sich im Anschluß an die Französische Revolution ausbildet, den Rousseauschen Gemeinwillen, auf den sich sowohl Kommunismus und Nationalsozialismus nicht ganz zu Unrecht berufen, aber auch rassistische Konzepte eines Arthur de Gobineau oder eines Georges Vacher de Lapouge.

Der angeblich so perfekte Parlamentarismus des Westens ist in seiner deutschen Ausprägung im Kaiserreich besser entwickelt als in Großbritannien oder den USA. Die amerikanische Historikerin Margaret L. Anderson hat dies in ihrer Studie über die „Lehrjahre der Demokratie“ klar herausgearbeitet. Winkler ist von seinem Arbeitsgebiet so fasziniert, daß er seit Jahren an einer großangelegten, mehrbändigen Folgemonographie arbeitet, die den Titel „Geschichte des Westens“ trägt. Er hebt das normative Ideal von Ländern wie den USA und England hervor, ohne adäquat herauszustellen, wie massiv in der praktischen Politik beider Staaten dagegen verstoßen wird, zuletzt im Rahmen der Invasion im Irak. Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist der Westen so gespalten wie lange nicht mehr: in einen „alteuropäischen“ und einen angloamerikanischen Teil.

Winkler will nicht wahrhaben, was bei westlichen Autoren wie Ian Morris oder Niall Ferguson kaum umstritten ist: daß der „Westen“ auch einen „Kampfbegriff“ (Eberhard Straub) darstellt. Sind in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Deutschland und Japan die Bösewichte, so nimmt diese Rolle im Kalten Krieg bekanntlich der vormalige Verbündete Sowjetunion ein. Nach 1990 wird die nunmehr vakante Stelle – jedenfalls in der Perzeption bestimmter US-Kommentatoren – mehr und mehr von Islam und Islamismus gefüllt.

Was heißt überhaupt „Westen“? Er geht einerseits geographisch über Europa hinaus und umfaßt die einstige britische Kolonie USA. Andererseits gilt nur der mittlere und westliche Teil Europas als Westen. Wo abendländisches Christentum und römisches Recht nicht Fuß fassen können, ist die kulturelle Grenze zu ziehen.

Deutschland kommt im 19. Jahrhundert um einen spezifischen Sonderweg nicht herum. Die Mittellage – darauf wird in der Geschichtsschreibung häufig hingewiesen – macht die Bildung der Nation konfliktträchtiger als das beispielsweise in England, Italien und den Vereinigten Staaten der Fall ist, wo die nationale Konstitution größtenteils eine innere Angelegenheit ist. Anfeindungen umgebender Staaten bleiben nach 1871 beträchtlich, was den Nährboden legt für die gegen „1789“ gerichteten „Ideen von 1914“. Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ sind bis heute die beste Erläuterung zu diesem Gedankenkonglomerat.

Nach der Niederlage von 1918 kann das Übergewicht der Vorstellungen vom „Dritten Weg“ zwischen Ost und West kaum verwundern. Überzeugte Westler wie Gustav Stresemann bleiben die Ausnahme, gleichfalls Wissenschaftler wie Ernst Troeltsch, die die Relation Deutschlands zu den westlichen Staaten vorurteilsfrei reflektieren. Der Nationalsozialismus ist West wie Ost grundsätzlich feindselig gestimmt. Allerdings werden die kriegsvölkerrechtlichen Normen im „Westfeldzug“ von der Wehrmacht zumeist eingehalten, anders als im „Unternehmen Barbarossa“ gegen das slawische „Untermenschentum“.

Die bedingungslose Kapitulation von 1945 schafft zwangsweise ein neues Verhältnis zu den Siegermächten. Es wäre falsch, die magische Anziehung vieler Jüngerer in den fünfziger Jahren allein der gewiß wirkmächtigen „Umerziehung“ zuzuschreiben, wie es konservative Autoren von Caspar von Schrenck-Notzing bis Stefan Scheil gelegentlich tun. Die Attraktivität der amerikanischen Konsum- und Musikkultur sollte man nicht unterschätzen.

Dennoch sind die Reserven gegen die westernization in der frühen Bundesrepublik noch erheblich. Bekannte katholisch-konservative Gelehrte – von Georg Stadtmüller über August Freiherr von der Heydte bis zu Winfried Martini – betonen trotz der Adenauerschen Westbindung die Differenzen zwischen abendländischer Werteorientierung und einer atomistisch-hedonistischen sowie massendemokratischen Ausrichtung in Ländern wie den USA. Erst in den späten sechziger Jahren wird die kulturelle Verwestlichung irreversibel – mit nachhaltigen Konsequenzen bis in die unmittelbare Gegenwart.

Welche Folgen sind besonders offensichtlich? Man betrachte lediglich die Veränderungen im Bildungswesen der letzten Dekade. Einst ist das deutsche Bildungssystem ein Exportschlager, heute sind hingegen zahllose Dekane an universitären Fakultäten stolz, wenn ihre Fachbereiche in „Departments“ umbenannt werden. Was an „Reformitis“ bisher herausgekommen ist – darüber existiert eine ganze Litanei von Klagen, angefangen von der Ökonomisierung bis zur Verschulung des Hochschulwesens.

Verbleiben wir im politischen Rahmen: Obwohl es nach 1990 keine strittige deutsche Frage mehr gibt, ist die Beziehung unseres Landes zu den Nachbarstaaten nach wie vor bestimmungsbedürftig. Hier hat Winkler recht. Die Verwestlichungsthematik spielt in der unmittelbaren Gegenwart vor allem in den Kontroversen um EU und „Europäismus“ (Vaclav Klaus) eine wesentliche Rolle. Der europäische Zentralismus, der im „Irrweg von Maastricht“ (Ludwig Watzal) bis „Lissabon“ Gestalt annimmt, wird primär mit dem „Aufstieg der anderen“ (Fareed Zakaria), insbesondere der Staaten Brasilien, Indien und China, gerechtfertigt.

Die EU habe, so die Anhänger der Unifizierung (von Elmar Brok über Daniel Cohn-Bendit bis zu Jo Leinen), die Aufgabe, ein global player zu werden, was ein „immer engeres“ Europa notwendig mache. Folgerichtig müsse eine signifikante Abtretung von Kompetenzen nach Brüssel erfolgen. Daß dabei Grundprinzipien der westlichen Moderne, wie Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit, nachdrücklich tangiert werden, gilt in dieser Perspektive als Kollateralschaden.

In den letzten Monaten wird offenkundig, wie sehr noch verbliebene Reste von nationaler Eigenständigkeit, etwa im Bereich des Haushaltsrechts, infolge der dramatischen Entwicklungen im Euro-Raum beseitigt werden. Selbst Abgeordnete der Fraktion „Die Linke“ haben darauf hingewiesen. Längst ist die Rechtswidrigkeit der Euro-Rettungsmaßnahmen sorgfältig belegt. Wie demokratisch ist es, wenn nur eine Handvoll Parlamentarier über die Rettungsschirmzuteilungen zu entscheiden haben?

Die faktische Haftungs- und Transferunion, die künftige Generationen unverhältnismäßig belastet, kann als sichtbarster Ausdruck nicht nur der fehlgeschlagenen Wirtschafts- und Währungsunion betrachtet werden, sondern auch als das Endstadium eines die eigene Identität aufgebenden Verwestlichungsprozesses.

Gerade das Hauptargument zugunsten einer forcierten Europäisierung, Gegengewichte gegen das angeblich bereits angebrochene „asiatische Jahrhundert“ zu bilden, überzeugt kaum. Es ist wenig plausibel, daß in China die Fusionierung von ökonomisch unterschiedlichen Staaten, leistungsfähigen wie fußkranken, beeindruckt.

Eher wird die Bonität der wirtschaftlich solideren Länder durch die massiven Umverteilungen beeinträchtigt. Eine Wirtschafts- und Währungsunion ist nur dann unschädlich, wenn die ökonomischen Grundsätze, in diesem Fall die Theorie vom einheitlichen Währungsraum, beachtet werden. Zentralismus begünstigt stärker den wirtschaftlichen Abstieg Europas als den Aufstieg, weil der wohlstandssteigernde Wettstreit tendenziell vermindert wird – von den politisch einschneidenden Seiten ganz zu schweigen. Wettbewerbshinderliche Strukturen werden (jenseits von kosmetischen Korrekturen) nicht fundamental reformiert, wenn bekannt ist, daß die Hilfsbedürftigen ohnehin milliardenschwere Unterstützungsgelder erhalten. Damit nicht genug: Die Ausgrenzung Ungarns durch EU-Institutionen ist ein Beispiel, wie weit die „EU-Diktatur“ (Karl Albrecht Schachtschneider) in politischer Hinsicht schon fortgeschritten ist. Diverse Ermächtigungsklauseln im Lissabonner Vertrag flankieren diesen Trend auf juristischer Ebene.

Die klare Aufwertung der supranationalen Bestandteile des EU-Rechts auf Kosten der intergouvernementalen hat die sukzessive Genese des „Superstaates“ mit ermöglicht, vor dem konservative Beobachter wie Hermann Lübbe eindringlich warnen. Erschreckend ist die Reaktion eines großen Teils der politischen Klasse auf das sehr zurückhaltende Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2009 zum Lissabon-Vertrag. Es will retten, was noch zu retten ist, und das ist über die Kernbereiche der „Ewigkeitsgarantie“ hinaus relativ wenig.

Es ist wohl kein polemischer Standpunkt, wenn man feststellt: Der lange Weg nach Westen findet nicht 1990, sondern in der EU-Transfer- und Haftungsunion sein definitives Ende. Während man vor 1945 eine oftmals hervortretende einseitige Einstellung vieler Deutscher gegen „den“ Westen konstatieren kann, die einem in manchen historischen Phasen dort wahrnehmbaren „Deutschenhaß“ (Max Scheler) entspricht, ist schon seit geraumer Zeit das andere Extrem unübersehbar: die endgültige Aufgabe der eigenen staatlichen Souveränität.

Die Hoffnung, daß andere europäische Staaten, besonders England und Frankreich, eine zureichende Balance von europäischen und nationalen Zuständigkeiten auf europäischer Ebene durchsetzen können, hat sich als trügerisch erwiesen. Daß der Verlust des Eigenen an die EU auf symbolischer Ebene (Fahnen, Hymnen etc.) stockt, ist nur ein schwacher Trost.

Ob man so pessimistisch sein muß wie der Publizist Günter Maschke, der Hinweise dafür sieht, daß sich das deutsche Volk still und leise aufgegeben habe und die „Deutschlandabschaffer“ ihr Ziel erreicht hätten, sei dahingestellt. Ganz falsch dürfte diese Gegenwartsbeschreibung aber nicht sein.

 

Dr. Felix Dirsch, Jahrgang 1967, Politikwissenschaftler, ist im Schul- und Hochschuldienst sowie in der Erwachsenenbildung tätig. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über  die neue Wikipedia-Republik („Programmierte Langeweile“, JF 20/12).

Felix Dirsch: Authentischer Konservatismus. Studien zu einer klassischen Strömung des politischen Denkens. Lit Verlag, Berlin 2012, gebunden, 392 Seiten, 59,90 Euro. Der Autor legt die ewigen Fundamente konservativen Denkens frei.

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