© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Der eloquente Misanthrop
Emile Ciorans „Pariser Notizen“ zwischen 1957 und 1972 liegen erstmals auf deutsch vor
Roderich Schmitz

Als 1994, nur wenige Monate vor Emile Ciorans Hinscheiden, Nicolaus Sombart die zweite Lieferung seiner Memoiren unter dem Titel „Pariser Lehrjahre 1951–54“ veröffentlichte, widmete er dem aus Siebenbürgen stammenden Wahlfranzosen darin ein Unterkapitel namens „Die nihilistische Sirene“. „Meine Abwendung von Carl Schmitt begann mit dem Schauder, den mir Ciorans Traktat einflößte“, erklärte dort Sombart junior, und er charakterisierte jenes Werk „Geschichte und Utopie“ – „vielleicht das Buch, das mich am besten ausdrückt“, wie Cioran in den nun endlich auf deutsch zugänglichen „Notizen“ meint – wie folgt: „Die Selbstzerstörungs-impulse eines neurasthenischen Individuums wurden hier verallgemeinert zu einer Theorie des politischen Handelns. Das waren die verruchten Gedanken, die der verruchten Tat vorausgehen. Der Propagandist des Suizids“, so Sombart, mutiere „zum Apologeten des Mordes“, „der Schreibkünstler zum Schreibtischtäter. Da hörte der Spaß auf.“ Tatsächlich?

Nico Sombart, der sich vom einst vielversprechenden, ja brillanten jungen Soziologen aus dem Alfred-Weber-Kreis in seinen späteren Jahren zum gefeierten Literaten, weil intellektuellen Vatermörder mauserte, war wohl selber ein wenig mulmig zumute bei seiner unverfroren dem linken Zeitgeist huldigenden Denunziation, denn schon auf der nächsten Seite hieß es zugunsten Ciorans verschämt abwiegelnd: „So darf man das Augenzwinkern nicht übersehen, mit dem er seine schwarze Philosophie propagierte. In diesem Wahnsinn war Methode. Und in der Methode steckte ein gutes Stück maghrebinischer Schlitzohrigkeit.“

Dem Wiener Karolinger Verlag ist es geglückt, die von dem pekuniär ungleich potenteren Unseld-Unternehmen Suhrkamp 2001 veranstaltete magere Cioran-Auswahl jetzt um die restlichen vier Fünftel aufzustocken. Der ebenso bibliophile wie polyglotte Verleger Peter Weiß hat mit Hilfe seines Filius die ursprüngliche Übersetzung von Verena von der Heyden ergänzt und zart österreichisch eingefärbt – angemessen insofern, als Cioran sich durchaus als k.u.k. Untertan verstand, der sich von der Kaiserin Elisabeth alias „Sissi“ ebenso fasziniert wie von den Schlagern und Zigeunerweisen der Donaumonarchie überwältigt zeigte. Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß einem in diesem Band der eloquenteste Misanthrop des 20. Jahrhunderts begegnet, ein legitimer Nachfolger und Überbieter Schopenhauers, und es bedarf schon des kumulativen Effekts der vollen tausend Seiten, um die monomanische Energie zu bestaunen, mit der da jemand (vergeblich!) nach Gründen sucht, sich nicht umzubringen, um schließlich doch erst mit satten 84 Jahren abzutreten.

Es gibt in den vorliegenden Aufzeichnungen eine Art Urszene: Der nur scheinbar schlafende kleine Emile lauscht nachts seinem Erzeuger, einem orthodoxen Popen, wie der seiner Frau erzählt, daß Rasputins Vater seinen Sohn aufgefordert hätte, Moskau koste es, was es wolle, ohne jegliche Hemmungen oder Skrupel zu erobern, weil Gott doch bloß ein altes Schwein sei. Die psychoanalytische Traumdeutung wird Cioran zeitlebens verachten, weil er die eigenen Obsessionen im Schreiben zu bewältigen vermag. Allerdings erlegt er sich die mühevolle Meisterung einer Fremdsprache auf, eben des Französischen mit seiner clarté (Vorbild sind ihm die klassischen Moralisten wie Chamfort und LaRochefoucauld), um den geborenen Mystiker in sich zu bändigen und bewußt eine Entwicklung à la Heidegger zu vermeiden.

Nicht zuletzt erkennt Cioran den Wert der Feindschaft: Sein Generationsgenosse und rumänischer Mitauswanderer, der jüdisch-marxistische Soziologe Lucien Goldmann, verübelte Cioran (wie auch Mircea Eliade) dessen einstige Mitgliedschaft in der antisemitischen „Eisernen Garde“ und verhinderte deshalb in Paris eine mögliche akademische Karriere Ciorans. Dafür ist der ihm überraschend dankbar, denn die Universitätslaufbahn wäre, so Cioran, eine allzu billige Ausflucht gewesen, sie würde ihn bequem und steril gemacht haben. Zwanzig Jahre lang war man einander in der gemeinsamen Stadt tunlichst aus dem Wege gegangen; endlich treffen sich, eher zufällig, Cioran und Goldmann zum ersten Mal persönlich, man ist sich auf Anhieb sympathisch, freundet sich gar beinahe an – fatal für Goldmann, der bald darauf, mit knapp 57 Jahren, stirbt. Ein Tod, den wiederum Cioran sich als Verdienst anrechnet: Der andere habe die Versöhnung einfach nicht ertragen können.

Simone Boué, Peter Weiß (Hrsg.): Emile M. Cioran: Notizen 1957–72. Karolinger Verlag, Wien 2011, gebunden, 1.024 Seiten, Abbildungen, 44,90 Euro

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