© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Ein Mantel für Unheilbare und Sterbende
Symposion der Bundesärztekammer zur Palliativmedizin / Ökonomische Fragen der Lebenserhaltung
Hans-Bernhard Wuermeling

Evidenz und Versorgung in der Palliativmedizin“ war das Thema eines Berliner Symposions, das die Bundesärztekammer aus Anlaß des 60jährigen Bestehens ihres Wissenschaftlichen Beirates und zum ehrenden Gedenken an ihren im vorigen Jahr verstorbenen Präsidenten Jörg-Dietrich Hoppe veranstaltet hat. Mit einem pallium, einem schützenden Mantel, will die Medizin heute die Unheilbaren und die Sterbenden umhüllen, um ihnen angesichts von „Furcht, Sorg’ und Schmerz“ des Todes beizustehen. Es irrt aber, wer da meint, das sei von jeher selbstverständliche Aufgabe der Ärzte gewesen.

Vielmehr galt seit Hippokrates, daß die Behandlung Unheilbarer und Sterbender keine ärztliche Aufgabe sei. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts meinten philanthropisch gesinnte Ärzte, man dürfe den Unheilbaren und Sterbenden die Fortschritte der Medizin nicht vorenthalten. Bei ihren als cura palliativa (Palliativbehandlung) bezeichneten Maßnahmen ging es in erster Linie um Lebensqualität, die damit an die Stelle des bisher nahezu einzigen Zieles der ärztlichen Behandlung, nämlich der Lebenserhaltung, gerückt wurde. Vielfach wurde dabei zwischen Hilfe zum Sterben (Tötung, Euthanasie) und Hilfe beim Sterben nicht unterschieden. Goethes Leibarzt Christoph Hufeland (1762–1836) anerkannte zwar die menschenfreundlichen Absichten, warnte aber eindringlich davor, sich auch mit Fragen der Lebensqualität zu beschäftigen.

Kaum hundert Jahre später prägten der Psychiater Alfred Hoche (1865–1943) und der Jurist Karl Binding (1841–1920) den Begriff des „lebensunwerten Lebens“, für das sie die Vernichtung forderten, die dann im Dritten Reich tatsächlich stattfand. Seither war das Thema Palliativmedizin in Deutschland tabuisiert, denn allzusehr verband man damit die Befürchtung, daß eine nur noch der Lebensqualität dienende Behandlung zur Fortsetzung der NS-Euthanasieaktionen führen könne.

Inzwischen verfügt man aber über immer wirksamere Methoden der Lebenserhaltung, die jedoch in immer mehr Fällen mit verminderter Lebensqualität erkauft werden. Oft war deswegen die weitere Lebenserhaltung als unverhältnismäßig anzusehen. Auch im Ausland stand man vor der Frage, ob man lebenserhaltende Maßnahmen wegen Sinnlosigkeit abbrechen dürfe.

Es war die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW), die diese Frage nach aufgeregten öffentlichen Diskussionen eindeutig bejahte und brauchbare Kriterien dazu angab. Da die Schweiz jeden NS-Denkens unverdächtig war, übernahm die Bundesärztekammer die SAMW-Erklärung fast wortwörtlich. Damit wurde die Betreuung Unheilbarer und Sterbender, also die Palliativmedizin, auch in Deutschland offiziell zur ärztlichen Aufgabe. Die Verpflichtung, in jedem Falle alle der Lebenserhaltung dienenden Mittel einzusetzen, wurde relativiert.

Es braucht Zeit, um einen solchen Paradigmenwandel im ärztlichen Alltag umzusetzen. Das Berliner Symposion bot dazu eine Art Zwischenbilanz. Der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio erweiterte den Kreis der solcher Medizin Bedürfenden, indem er auch die Angehörigen der Unheilbaren und Sterbenden dazurechnete, also eine Klientel, der bislang kaum ärztliche Beachtung gegolten hat. Diese bedürften der Aufklärung und Beratung, auch um ihren unheilbaren Angehörigen besser beistehen zu können. Mehr und mehr werde auch eine spirituelle Hilfe für Patienten erwartet und sogar gefordert – und die Frage, wie es der Patient mit der Religion halte, gelte bei der Erhebung der Anamnese keineswegs mehr als unärztlich.

Mit Spiritualität beschäftigte sich auch der Münchner Jesuit, Arzt und Psychiater Eckhard Frick, der seelsorgliche und ärztlich-psychiatrische Funktionen in Einklang zu bringen versucht. Er stellte somit die Frage, ob es wissenschaftlich gesicherte spirituelle Behandlungserfolge gebe. Das verneinte er nachdrücklich. Immerhin fordere aber die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrer Definition von Palliativmedizin auch spirituelle Versorgung, und diese sei mit psycho-physischen Gesundheitsvorteilen positiv korreliert.

Manche Beiträge zur Schmerzbekämpfung oder zur Anwendung der Palliativmedizin bei bestimmten Krankheitsgruppen waren methodisch allzusehr noch den üblichen Denkweisen der evidenzbasierten Medizin verhaftet, als ob der Erfolg einer Palliation so wie der einer Arzneimittelwirkung meßbar gemacht werden könnte. Hier gibt es keinen Erfolg im Sinne des Gewinns von nach Lebensqualität gewichteten Lebensjahren (Quality adjusted life years/Qualy), und für Statistiken fehlt es an tragfähigen Erfolgsdaten.

Versuche einer soziologischen Untersuchung der Palliativmedizin grenzen deswegen an reine Zahlenspiele. Erschreckend war die Wortneuschöpfung „Sterbequalität“, die von Christof Müller-Busch, ehemals Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, verwendet wurde. Erfrischend wirkte dagegen der über Einzelfälle berichtende Beitrag des Freiburger Allgemeinmediziners Wilhelm-Bernhard Niebling, den er mit prachtvollen Fotos aus dem Schwarzwald untermalte, so daß man in Anlehnung an die Redensart „Neapel sehen und dann sterben“ dafür den Schwarzwald einsetzen möchte.

Über palliativmedizinische Erfahrungen in der Kinderheilkunde berichtete Monika Führer, die die Koordinationsstelle Kinderpalliativmedizin am Münchner Klinikum leitet. Sie legte besonderen Wert auf die Einbindung der Eltern bei der Betreuung todkranker Kinder und darauf, daß mit Eltern und Kindern über den bevorstehenden Tod gesprochen werden kann und muß. Marina Kojer aus Österreich forderte angesichts der Überalterung der Gesellschaft eine vermehrte Palliation in der Geriatrie, die der Vereinsamung der Alten entgegenwirken müsse.

Eine positive Bilanz konnte für die Vermehrung stationärer und ambulanter Palliativeinrichtungen gezogen werden. Darin zeigt sich, daß sich die vor zwei Jahrhunderten begonnene Zuwendung des Arztes zu den Unheilbaren und Sterbenden und die dazu notwendige Wende im ärztlichen Denken und Handeln – Lebensqualität statt Überleben – langsam, aber stetig vollzieht und die ihr innewohnende Problematik mitsamt ihren grausamen Verirrungen nüchtern erkannt und zunehmend überwunden wird. Schließlich ist die Palliativmedizin zusammen mit der Hospizidee die einzig wirksame Antwort auf ein zunehmendes Verlangen nach Euthanasie, ein Verlangen, das wie beim Suizid ein „Appell an die anderen“ ist, deren Zuwendung und stützender Mantel gefordert wird. Die Bundesärztekammer tat gut daran, Evidenz und Versorgung in der Palliativmedizin zum Thema gemacht zu haben.

 

Prof. Dr. med. Hans-Bernhard Wuermeling ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Rechtsmedizin an der Universität Erlangen-Nürnberg. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über „Hirntod und Organentnahme“ (JF 23/12).

Foto: Ethische Fragen der Ärzte zur Palliativmedizin: Erschreckend ist die Wortneuschöpfung „Sterbequalität“

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