© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Grüße aus Moskau
Ab in die Provinz
Thomas Fasbender

Sommerliche Stadtflucht – raus aus dem Moloch Moskau und mit dem Nachtzug nach Katharinenstadt. Katharinenstadt? Der Flecken im Norden von Saratow war einst ein Zentrum der Rußlanddeutschen, die dort seit 1766 ansässig waren. Reichsstraße, später Steppenstraße hieß die zentrale Achse der Stadt. Zwischen der alten lutherischen Kirche und dem neuen postsowjetischen Denkmal für Katharina die Große flanieren heute Liebespaare unter den Baumkronen der Heldenallee. Am Wolgastrand liegen die Badenden.

Nach der Oktoberrevolution befand sich hier die Hauptstadt der Wolgadeutschen Autonomie. Der Kommunismus, die Umsiedelung 1941 unter Stalin, schließlich der Exodus der Deutschstämmigen nach 1990 haben dieses Kapitel ausgelöscht. 1920 war die Stadt in Marxstadt umbenannt worden. 1941 fiel auch die Silbe „-stadt“.

Was erinnert in Marx noch an die Vergangenheit: Gedenktafeln an Häusern aus dem 19. Jahrhundert mit den Namen der Erbauer – Köningshoff, Kerner. Im Haus des Kaufmanns Miller residiert die Wolgadeutsche Bank. Von den weißen Säulen der Kirche blättert Farbe. Ein paar Fenster sind neu.

Der Leiter des „Russisch-Deutschen Hauses“ kämpft auf verlorenem Posten. Ein letztes Projekt verfolge er noch, meint er resigniert, wenn daraus wieder nichts werde, sei für ihn nach 24 Jahren Schluß. Einen Internetanschluß besitzt er nicht, am Deutschen Jahr in Rußland ist er nicht beteiligt. Auch Katharinenstadt entgeht nicht dem schleichenden russischen Mangel an Antrieb und Hoffnung.

Den Menschen auf der Straße scheint die trostlose Provinz ins Gesicht geschrieben. Netzhemd, Trainingshosen, Badelatschen und ein Bier in der Hand. Einige Villen aus unverputzten Ziegeln zeugen vom Erfolg der unternehmerisch Begabten. Abseits der Steppenstraße, die heute Leninprospekt heißt, gibt es kaum Geschäfte am Straßenrand. Restaurants sind dünn gesät. Nur die Mobilfunknetze betreiben ihre klimatisierten Filialen. Im armenischen Café, einem Verschlag mit kleinem Innenhof, klagt ein Gast, daß in Rußland kein schnelles Geld mehr zu machen sei.

Auch im 18. Jahrhundert sei niemand an die Wolga gezogen, weil er es zu Hause bequem gehabt habe, sagt der Direktor des „Russisch-Deutschen Hauses“. Vielleicht werde ja alles anders, wenn in Deutschland die Verhältnisse einmal schlechter stünden. Ganz abwegig sei das schließlich nicht. Es klingt wie seine letzte Hoffnung.

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