© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Im Keller des Finanzsystems
Libor-Skandal: Großbanken haben Zinssätze manipuliert / Bei den Sammelklagen geht es um Milliardenbeträge
Markus Brandstetter

Schlechte Produkte und Dienstleistungen gibt es überall. Aber meist kann der Kunde mindere Qualität erkennen und daraus die Konsequenzen ziehen. Das Montagsauto wird zurückgegeben und die Marke zukünftig gemieden. Bei Hotelaufenthalten ohne Meerblick, Gammelfleisch mit Mikroben und Pfusch am Bau – überall hat der Kunde eine halbwegs reale Chance auf Regreß und Entschädigung.

Anders verhält es sich in der inzwischen nicht nur für Laien immer undurchschaubareren Welt der Finanzprodukte. Die Kapitallebensversicherung, die keine Zinsen bringt, die Schiffsbeteiligung, die nur Verluste einfährt, der Immobilienfonds, der geschlossen wird – das sind Geldanlagen, die der Normalmensch nur selten einschätzen kann. Ist der Vertrag einmal unterschrieben, gibt es kein Zurück mehr. Der Kunde ist dem Finanzinstitut auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und die mickerigen Entschädigungen, die sich Kleinanleger in Jahren erstritten haben, ändern am Gesamtbild gar nichts.

Eine der entscheidenden Größen bei finanziellen Transaktionen ist der zugrundeliegende Zins. Der Zins ist der Preis des Geldes, wenn es verliehen wird. Zinssätze beeinflussen alles: Währungen, Wechselkurse und Wertpapiere. Einer der wichtigsten Zinssätze der Welt ist der sogenannte Libor (siehe Infokasten). Die London Interbank Offered Rate ist der Zins, zu dem Banken sich untereinander Geld ausleihen.

Libor-Zinssätze werden für verschiedene Währungen und Laufzeiten berechnet, aber der Referenzzins schlechthin ist der Drei-Monats-Libor auf den US-Dollar. Zahllose Finanzgeschäfte im Gesamtwert von Hunderten Billionen Euro orientieren sich am Libor. Derivate von irrwitziger Komplexität hängen genauso daran wie schlichte private Hypothekendarlehen. Und nun stellt sich heraus, daß diese Richtschnur der internationalen Finanzwelt über Jahre, vielleicht Jahrzehnte manipuliert wurde. Wer tut so etwas? Und warum?

Wer das war, scheint geklärt, denn der Kreis der Verdächtigen ist nicht groß. Die 16 größten Banken der westlichen Welt geben jeden Tag ihre Schätzung des Libor ab. Der mutmaßliche Hauptschuldige ist die britische Barclays Bank, die viertgrößte der Welt, ein in der City of London beheimatetes Haus mit 300jähriger Geschichte und bislang intakter Reputation. Mit der scheint es erst mal vorbei zu sein. Angeekelt liest man die internen E-Post-Nachrichten, in denen sich Devisen- und Wertpapierhändler nach jeder Zinsmanipulation gegenseitig beglückwünschen. „Mensch, Oschi“, schreibt einer, „ich steh’ megamäßig in Deiner Schuld.“ „Ich mach’ jetzt eine Flasche Schampus auf“, ein anderer.

Barclays tut dies als Einzelaktionen kleiner Händler ab, aber das glaubt kein Mensch, was man allein daran sieht, daß drei Topmanager den Hut nehmen mußten. Die Briten waren jedoch nicht allein. Behörden in Europa, Japan und den USA ermitteln gegen rund 20 Banken weltweit. Die Deutsche Bank hat laut Medienberichten angeblich schon vorausschauend eine Kronzeugenregelung bei der EU-Kommission beantragt, damit die spätere Strafe – es ist von Summen im Milliardenbereich die Rede – geringer ausfällt.

Besondere Brisanz gewinnt der Skandal dadurch, daß Barclays behauptet, die Bank of England (BoE) als Zentralbank selbst habe zu Beginn der Finanzkrise 2008 dem Traditionshaus unter der Hand signalisiert, den Libor zu manipulieren, um das britische Finanzsystem gesünder aussehen zu lassen, als es in Wirklichkeit war. Die BoE bestreitet dies vehement, aber wenig glaubhaft. Daß die BoE als Aufsichtsbehörde versagt hat, steht indes heute schon fest.

Zwei Gründe sprechen für die Zinsmanipulationen. Nennt eine Bank – wie Barclays das im Herbst 2008 auffällig oft tat – einen deutlich höheren Zins als die meisten anderen Banken, dann fliegt sie aus der Libor-Berechnung raus. Das aber zieht den ganzen Durchschnitt nach unten, was der Zweck der Übung war. Der andere Grund für solche Manipulationen ist einfach der, daß ein um nur wenige Basispunkte niedrigerer Zinssatz Barclays über Nacht Millionengewinne verschaffen konnte.

Diese ganze Geschichte ist noch lange nicht ausgestanden. Barclays mußte bislang eine Strafe von umgerechnet über 366 Millionen Euro bezahlen, aber das ist erst der Anfang. Investoren auf der ganzen Welt bereiten Sammelklagen gegen die betroffenen Banken vor. Die nun überall anlaufenden Ermittlungen ergaben, daß die New Yorker Niederlassung der US-Zentralbank Federal Reserve (Fed) bereits im Frühjahr 2008 die Briten auf Zinsmanipulationen hinwies. Timothy Geitner, der damalige Präsident der New Yorker Fed und heutige amerikanische Finanzminister, hatte 2008 sogar Verbesserungsvorschläge unterbreitet, die der britische Bankenverband jedoch ignorierte.

Wenn irgendwann alles ausgestanden ist, dann wird wahrscheinlich ein Satz von Bob Diamond, Barclays’ gefallenem Vorstandsvorsitzenden, in Erinnerung bleiben, der sagte: An den meisten Tagen habe Barclays ja darauf verzichtet, den Libor zu manipulieren. „Diese Aussage“, kommentierte der britische Economist süffisant, gleiche der eines Mannes, „der seine Ehefrau betrügt, aber darauf Wert lege, als anständiger Mensch zu gelten, da er dies ja nicht jeden Tag tue“.

 

London Interbank Offered Rate

Libor ist das Akronym für London Interbank Offered Rate. Das ist der Zinssatz, den Banken sich gegenseitig berechnen, wenn eine Bank sich von einer anderen kurzfristig Gelder leiht. Libor-Zinssätze werden für zehn verschiedene Währungen und 15 Laufzeiten berechnet. Der wichtigste ist der Drei-Monats-Libor auf den US-Dollar. Festgelegt wird der Libor an jedem Werktag um elf Uhr vormittags durch insgesamt 16 Banken, die dann jeweils der Bank of England mitteilen, was die von ihnen zu bezahlende Interbankenrate darstellt. Von den 16 Quotierungen werden die höchsten und die niedrigsten vier Sätze vernachlässigt. Aus den restlichen Nennungen wird ein Durschnittszins errechnet, der den tagesaktuellen Libor ergibt. Wie manches im britischen Finanzsystem gilt der Libor heute allgemein als ein Anachronismus, der aus Tagen stammt, als die Banker der Londoner City einander noch persönlich kannten und Vertrauen wichtiger war als Verträge. Diese Zeiten sind nun endgültig vorbei.

Libor-Seite der British Bankers’ Association: www.bbalibor.com

Foto: Hauptgebäude der Barclays Bank in London: Daß die Libor-Manipulationen nur Einzelaktionen kleiner Händler waren glaubt niemand

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