© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/12 03. August 2012

Pankraz,
Don Alphonso und die digitale Boheme

Recht erstaunt registriert Pankraz, daß sich die lautstärksten „sozialen Netzwerker“ und „Großblogger“ hierzulande immer öfter als „Bohemiens“ bezeichnen und ihr Geschäft als Boheme, als „digitale Boheme“. Ob Sascha Lobo oder Don Alphonso, ob Holm Friebe oder Kathrin Passig – sie alle suhlen sich neuerdings geradezu in dem Begriff, hängen ihn sich um den Hals wie einen hohen Orden, verlangen als „anerkannte Digital-Bohemiens“ staatliche Knete (monatlich wenigstens 1.000 Euro bar auf die Kralle).

Vor Tisch las man’s anders. Da war der „professionelle Social-Networker“ keineswegs, wie der klassische Bohemien aus alten Operettenzeiten, eine bloße Randfigur des eigentlichen Kunstschaffens, kein parasitärer Stammtischbruder und „Adabei“, sondern ganz im Gegenteil der schöpferische Künstler selbst, der geniale Kreativbolzen der Neuzeit an sich und überhaupt. Und mehr als das: „Social-Networker“ à la Lobo verkörperten angeblich sogar den generellen Sozialtyp der Zukunft, Arbeiter und Unternehmer in einem und somit die endliche Lösung aller Sozialfragen via Internet.

Die jetzige Kehre vom Künstlergenie zum bloßen Bohemien wirkt auf den ersten Blick an sich nicht umsympathisch, offenbart freilich ein monumentales Mißverständnis dessen, was Boheme eigentlich ist. Das einschlägige Büchlein von Sascha Lobo und Holm Friebe trägt den umständlichen, doch sehr bezeichnenden Titel „Wir nennen es Arbeit: Die digitale Boheme oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung“. Boheme ist für die Autoren also nichts weiter als ein ökonomisches Phänomen. Festangestellt oder freischwebend – so lautet ihre Alternative. Sie machen sich damit aber nur lächerlich.

Man mag noch so viel Herablassendes über die Operetten-Boheme von einst sagen – ein banales Sozialproblem war sie gerade nicht, ist es nie gewesen. Die alten sozialistischen Großtheoretiker, die Lassalle oder Kautsky, nahmen sie gar nicht wahr; höchstens sprachen sie gelegentlich verächtlich von „Lumpenproletariat“, das sich manchmal in Form von Bettelei oder Kleindiebstahl an der Peripherie von Künstlervierteln, zum Beispiel in Schwabing, breitmache und von dem sich ein guter, bildungshungriger Proletarier gefällgst fernzuhalten habe.

Echte Boheme war nie eine Frage des finanziellen Einkommens, und wenn einmal doch, so waren es meistens nicht die Bohemiens, die Stammtischbrüder und Adabeis, welche knapp bei Kasse waren, sondern just die wirklichen Künstler, um die man sich bewundernd scharte und denen man oft, wenn es ans Bezahlen ging, großmütig aushalf. Gleichsam als Gegengabe durfte man sich dann am Ruhm des wirklichen Künstlers wärmen, etwas von dessen Glanz fiel auf einen selbst, man war – obwohl selbst nicht kreativ – aufgenommen ins Milieu des wahrhaft Schöpferischen, profitierte eventuell auch davon auf niedrigerem Niveau.

Ob es dem wirklichen Künstler nützt, wenn er von Bohemiens dicht umgeben ist, oder ob er nicht eher darunter leidet, ist schwer zu entscheiden. Der Frankfurter Schriftsteller Martin Mosebach hat seinerzeit, als der Suhrkamp-Verlag nach Berlin umzog und dadurch das örtliche Boheme-Milieu am Main ausdünnte, konstatiert, daß dies eher ein Segen für ihn sei. „Es ist gut für die Künstler. Desinteresse nützt! Wo es kein ‘Milieu’ gibt, kann es einen auch nicht umarmen und ersticken.“

Andere Schöpferische fühlen sich ausgesprochen wohl im Kreis ihrer Verehrer, selbst wenn diese mitunter aufdringlich sind, man denke an Stefan George, Frank Wedekind, Karl Kraus, Knut Hamsun, Richard Dehmel. Es ist dies keine Frage der Eitelkeit, sondern viel eher eine des künstlerischen Temperaments und der jeweiligen Intention, die es beflügelt. Manche Boheme-Milieus sind verkappte Universitätsseminare, in denen sich in lässigster, souveränster Weise pädagogischer Eros entfaltet, andere blühen, statt im Café, etwa im Theater; man denke an Brechts legendären Assistentenkreis im Berliner Ensemble!

Stets stand jedenfalls (oder steht vielleicht auch noch) im Mittelpunkt jeder echten Boheme eine exorbitante menschliche Individualität, ein wahrer Meister seines Faches, dessen Zustimmung unbedingt erforderlich war, wenn man in den innersten Kreis der Schüler, Assistenten oder liebenden Bewunderer aufgenommen werden wollte. Um den inneren Kreis bildeten sich unter Umständen weitere, entferntere Kreise, eben Milieus, die allmählich ganze Stadtviertel zu prägen begannen: Schwabing, Saint-Germain-des-Prés, Lower East Side, mit Einschränkungen auch Prenzlauer Berg.

Was schon beim ersten Draufblick gegen die digitale Boheme der Don Alphonso und Kathrin Passig spricht, ist ihre Kernlosigkeit und jammervolle Banalität. Es gibt keine Sonne, von der schöpferische Wärme und Strahlkraft ausgehen könnte. Statt dessen hält sich jeder Blödmann selber für eine Sonne, nur weil er gelernt hat, ins Internet zu schalten, eifrig Links zu bedienen und dadurch rein quantitative, auf pure Masse geeichte Algorithmen herzustellen. Und dann will er auch noch Geld vom Staat, obwohl er weniger als nichts „geschaffen“ hat!

Immerhin, etwas Beruhigendes hat das Treiben doch: Es wird in Zukunft wohl weniger blindwütige Revoluzzer geben, welche die Welt mit unausgegorenen Ideologemen behelligen. In der klassischen Operetten-Boheme saßen nämlich, wenn auch kaum im innersten Kreis, ziemlich viele solcher Revoluzzer: abgebrochene Originalgenies, bei denen es nicht einmal zum Zweitbesten gereicht hatte und die nun unterm Wärmestrahl des jeweiligen Zentralgestirns ihr eigenes Versagen den „bösen Zuständen“ in die Schuhe schoben und auf Rache sannen. Die alte Boheme, muß man leider konstatieren, hat so manches Ungeheuer ausgebrütet.

Bei der digitalen Boheme ist dergleichen nicht zu befürchten. Wer beim Verlinken und Posten immer nur der eigenen Unerheblichkeit begegnet, dem fallen nicht einmal mehr Irrtümer ein. Er kann sich nur nach der Festanstellung sehnen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen