© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/12 03. August 2012

Warum progressive Tarife ungerecht sind
Die Neidsteuer
Kurt R. Leube

Die leidige Geschichte der progressiven Besteuerung läßt sich ziemlich mühelos von heutigen Erfahrungen über radikale Vorschläge während der Französischen Revolution oder die steile Progression, mit der sich die Medici an der Macht zu halten versuchten, bis weit ins klassische Griechenland zurückverfolgen.

Als Instrument der Umverteilung allerdings wurde sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Theorie und Praxis nahezu einstimmig als willkürlich oder ungerecht verworfen und wegen ihres Verstoßes gegen das Prinzip der Gleichbehandlung auch konsequent abgelehnt. Die Ansicht, daß es sich dabei um eine legale Form des Raubes handelt, war seit Thomas von Aquin weit verbreitet.

Als dann aber vor 164 Jahren, Karl Marx und Friedrich Engels das „Kommunistische Manifest“ (1848) veröffentlichten und dort neben anderen konfiskatorischen Maßnahmen auch eine „starke Progressiv-Steuer“ forderten, begann in Wissenschaft und Politik bald ein radikaler Meinungsumschwung.

Für Marx und Engels sollte die Progression dem Proletariat nach Durchlaufen der ersten revolutionären Stufe als Instrument dienen, der verhaßten Bourgeoisie endlich alles Kapital zu entreißen, wobei der größere Teil dieser Maßnahmen „vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigenthumsrecht und in die bürgerlichen Produktions-Verhältnisse“ erfolgen sollte. Gepaart mit der sogenannten Sozialen Frage gewann dann ungefähr ab 1870 Marx’ Idee, Güter nicht mehr nach Leistung, sondern nach Bedürfnissen zu verteilen, politisch schnell an Einfluß.

Obschon die meisten der preußischen „Kathedersozialisten“ der finanz- und volkswirtschaftlichen Begründung der Einkommenssteuer zunächst noch den Vorrang vor Aspekten der Verteilungsgerechtigkeit gaben, verwandelte sich die Steuerpolitik unter ihnen dem Zeitgeist folgend mehr und mehr zu einer Umverteilungspolitik. Daß es damit auch zur Aushöhlung des Rechtsstaatsprinzips mit seinen Garantien für Privateigentum, individuelle Freiheit, für Gleichbehandlung oder gegen staatliche Willkür kam, wurde lange übersehen oder zumindest selten hinterfragt.

Semantisch meisterhaft gelang es bald auch mit den sogenannten „Opfertheorien“ oder „Beitragsfähigkeitstheorien“ geläufige Begriffe so umzudeuten, daß die Progression als die einzig gerechte und moralisch gerechtfertigte Besteuerungsmethode der Einkommen erscheinen mußte. So wurde etwa der Steuerzwang mit dem positiven Begriff der Steuerkraft des Bürgers ersetzt, und mit geschickten Appellen an den persönlichen Stolz, Neid oder an unbestimmte Schuldgefühle dem Staat gegenüber wurde dann jenen zu größerem Wohlstand gelangten Mitbürgern meist auch noch ein gewisses Maß an Unmoral bei der Erlangung ihres Reichtums unterstellt. Mit dem leeren, politisch aber daher zündenden Schlagwort der „sozialen Gerechtigkeit“ wird seither die unterstellte Ungerechtigkeit des Kapitalismus mit einer fast konfiskatorischen Steuerprogression erfolgreich auszugleichen versucht.

Nun ist aber Gerechtigkeit ein moralisches Konzept und kann somit nur auf menschliche Handlungen und nicht etwa auf Wirtschaftssysteme, Gesellschaften, oder Naturzustände angewendet werden. Nicht der Kapitalismus ist daher ungerecht oder fair, vielmehr ist es in Marktwirtschaften den Menschen erlaubt, gerecht, ethisch oder gemein zu handeln. Heute ernten jene jüngst von François Hollande angedrohten 75 Prozent Einkommensbesteuerung, die Ideen der griechischen Syriza oder der schrille Ruf nach Enteignung durch Occupy Wall Street und Barack Obamas neues Motto eines „fair share“ regelmäßig donnernden Applaus und unkritische Zustimmung.

Vielleicht läßt sich die gegenwärtige Rückbesinnung auf alte Ideen von Marx und Engels zum Teil auch aus dem Unbehagen der studentischen Jugend begreifen, der es durch die eher einseitige Ausbildung an wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Einsicht und alternativen Theorien fehlt. An den heutigen Massenuniversitäten wird somit eine gewaltige Verschwendung betrieben mit der einzigen Ressource die wirklich knapp ist – mit der schöpferischen Phantasie.

Steuern sind in wirtschaftstheoretischer Sicht Preise für die Bereitstellung öffentlicher Güter. In der politischen Diskussion um die Einkommenssteuer wird allerdings die Progression dann meist zu einer moralischen Instanz eines undefinierten Gemeinwohls, mit der eine Mehrheit, die diesem Satz selbst nicht unterliegt, ein Einkommen als angemessen und damit im öffentlichen Interesse liegend, bestimmt. Somit aber wird das Einkommen seiner Funktion als Wertmaßstab individuell dargebrachter Leistungen beraubt, weil es durch eine Mehrheit entweder als verdient, unverdient oder ungerechtfertigt und sogar sozial unerwünscht eingestuft wird.

Einkommen aus sportlicher oder künstlerischer Tätigkeit unterliegen diesem Urteil nur selten. Wenn also ein guter Verdienst für eine Leistung mit hoher Progression besteuert wird, kann erwartet werden, daß Kapital abfließt und sich die Beträge verringern, die der Besteuerung unterliegen. Es kommt zur Gefahr einer Kumulation, bei der die Steuersätze steigen und die Steuerbemessungsbeträge schwinden, so daß bald auf die kleinere Basis noch höhere Sätze angewendet werden müssen.

Nun macht es allerdings das sozialpolitische Bestreben, materiell ungleich ausgestattete Menschen wenigstens in annähernd gleiche Positionen zu bringen notwendig, diese dann auch ungleich zu behandeln. Schließlich muß jede Gleichbehandlung ungleicher Menschen immer zu Ungleichheiten führen. Der Logik der Progression entsprechend werden somit Menschen steuerlich nicht mehr gleichen, sondern einer moralisierenden Stufung entsprechend, ungleichen Regeln unterworfen und das Gleichbehandlungsprinzip damit auf den Kopf gestellt.

In einer Marktwirtschaft, die unter anderem auf freiem Austausch von Waren, Leistungen oder Informationen beruht, kann der Wert einer Handlung immer nur der individuell empfundenen Wertschätzung des Empfängers dieser Leistung entsprechen. Jede Tätigkeit kann nur jenen Wert haben, den andere Personen bereit sind dafür zu bezahlen und ein daraus resultierendes Einkommen kann in der Folge dann auch unter allgemeinen Gerechtigkeitsaspekten kaum als angemessen bezeichnet werden. Einkommen in Marktwirtschaften sind weder eine Funktion des persönlichen Einsatzes, einer gesellschaftlichen Stellung noch der eingesetzten Zeit.

Das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit aber setzt immer ein kollektives Einverständnis der Gesellschaft über die wünschenswerten Ziele, das Ausmaß oder den Zweck einer Umverteilung voraus. Umgangssprachlich führt dies dann zu jener unheilvollen Konfusion, die durch die Gleichsetzung von Gesellschaften und Organisationen entsteht. Gesellschaften sind das ungeplante Ergebnis eines freiwilligen Zusammenlebens unabhängiger Menschen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen. Mit dem gleichen Begriff beschreiben wir aber auch geplante, absichtlich begründete und zweckgerichtete Organisationen.

Während sich eine Gesellschaft im ersteren Sinn durch Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheit, Selbstverantwortung und freie Märkte auszeichnet, wird in Organisationen, wie etwa in einem Unternehmen oder einem Club von jedem Mitglied vertraglich oder stillschweigend erwartet, gemeinsam zur Realisation eines definierten Zweckes oder kollektiven Zieles beizutragen.

Weil nun in marktwirtschaftlichen Gesellschaften das Prinzip einer verteilenden oder sozialen Gerechtigkeit ohne Zwang nicht durchsetzbar ist, verkommen sie daher zu Organisationen oder Wohlfahrtsstaaten, die durch kollektive Ziele, Zwecke oder Absichten charakterisiert sind. Folgerichtig muß dies zum fortschreitenden Verlust individueller Freiheit und unternehmerischen Handelns führen.

Nur wenn wünschenswerte Zustände geplant herbeigeführt wurden oder hätten herbeigeführt werden können, ist es somit sinnvoll, die Handlungen derjenigen, die diese initiiert oder geduldet haben, als gerecht oder ungerecht zu bezeichnen. Die in Gesellschaften freier Menschen individuell erzielten Einkommen aber sind das Ergebnis menschlicher Handlungen und nicht das Resultat einer höheren Absicht.

Wenn nun die Progressionsraten, denen eine Minderheit unterworfen ist, in der Regel von einer Mehrheit festgelegt werden, die diesem Satz selbst aber nicht unterliegt, muß aus dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit folgen, daß die Majorität der mittleren oder kleineren Einkommen über die von der Minorität zu tragenden Lasten entscheidet. Allerdings macht es durchaus einen Unterschied, ob eine Majorität einer einkommensschwachen Minorität eine Steuererleichterung gewährt und somit freiwillig höhere Belastungen übernimmt oder ob die Mehrheit einer Minderheit Lasten diktiert.

Es ergibt sich daher jener gefährlich-paradoxe Effekt der Progression, der anstatt Ungleichheit zu reduzieren, mithilft bestehende Ungleichheit nicht nur zu erhalten, sondern auch die wichtigste Kompensation für jene Ungleichheit, die in einer Marktwirtschaft unvermeidlich ist, zunichte macht.

Das Prinzip wirtschaftlicher Gerechtigkeit, das gleiche Entlohnung für gleiche Leistung fordert, wird somit auf den Kopf gestellt und der politischen Willkür durch inhaltsleere Phrasen wie soziale Gerechtigkeit, öffentliches Interesse oder Gemeinwohl freier Lauf gegeben. Die Anmaßung über die Höhe verdienter Einkommen moralisch zu urteilen, stützt sich dabei neben Vorurteilen und Neidgefühlen wohl auch auf Marx’ kaum je hinterfragte Doktrin, der zufolge Güter nicht für eine Leistung, sondern nach gesellschaftlich erwünschten Bedürfnissen zu verteilen sind.

Steuern gehören schon seit jeher zu jenen Fragen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, an denen sich die Geister scheiden. Obwohl alle volkswirtschaftlichen, administrativen, finanziellen, moralischen und ethischen Argumente eindeutig für die Einführung einer „Flat Tax“ sprechen, ihre Vorteile klar auf der Hand liegen und jedermann verständlich sind, wagen sich im gegenwärtigen, krisengeschüttelten Europa nur wenige Politiker an diese Idee.

Der Grund dafür ist jedoch kaum in ideologischen Vorurteilen allein zu suchen, sondern wohl eher partei- oder machtpolitisch bedingt. Für den rational handelnden Politiker dominiert in der Regel die Furcht, durch eine Umstellung des Steuersystems, das heißt durch den Abbau von Privilegien bestimmter Gruppen, die für sein politisches Überleben notwendige Unterstützung dieser Wählerschichten zu verlieren.

Diese Bedrohung ist für den Parteipolitiker meist viel größer als die Erwartung, durch die angestrebte Reform neue Wähler zu gewinnen und damit an der Macht bleiben zu können. So wird der stimmenmaximierende Politiker zur Geisel der gegenwärtigen Doktrin. Man bleibt somit eher bei der unheilvollen Progression, die nach Arthur B. Laffer („Laffer-Kurve“) immer steiler werden muß, je kleiner die Steuerbasis durch Abwanderung, Leistungsverweigerung oder Schwarzarbeit wird.

 

Prof. Kurt R. Leube, Jahrgang 1943, ist Hayek-Schüler und gehört zu den Mitbegründern des Internationalen Instituts Österreichischer Schule der Nationalökonomie. Er lehrt an der Stanford University (USA) und an der Universität Liechtenstein.

Foto: Appell an niedere Instinkte: Die Steuerprogression stützt sich auf Vorurteile, Neid und einen willkürlichen Begriff von sozialer Gerechtigkeit

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