© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/12 03. August 2012

Plastikfreie Zone
Eine österreichische Familie läßt sich auf ein Experiment mit unsicherem Ausgang ein: Ein Leben ohne Kunststoffe
Ellen Kositza

Das Phänomen ist vor allem jedem bekannt, der Leben und Wohnung mit Kindern teilt: Die Dinge nehmen überhand. All die anscheinend unverzichtbaren Gebrauchsgegenstände, die Utensilien für Schule, Sport und Spaß, dazu das große Drüberhinaus: die Geschenke von Oma, Opa, Tante und Nachbarin, zum Geburtstag, zu Weihnachten, Ostern und Nikolaus, die zusätzlichen Aufmerksamkeiten, vom letzten Fest, der Tombola und so weiter. Alles wird zu Hausrat, der gewürdigt, sortiert, genutzt – und meist irgendwann entsorgt werden will. Der Dinge geringster Teil ist aus ansehnlichem Material: gläsern, tönern, hölzern. Das Gros ist Plastik, oft „praktisch“, meist unzerstörbar.

Wir kennen die Bilder von gigantischen Inseln aus Kunststoffmüll, die auf den Ozeanen treiben; mancher weiß von Mittelmeerstränden, gespickt mit einem Konvolut an blaßgewordenen Plasteresten, zu berichten. Die Kinovorführung von Werner Bootes diesbezüglichem Dokumentarhorrorfilm „Plastic Planet“ hatte Sandra Krautwaschl 2009 schockiert.

Klar, die übliche Mittelstandsökologie praktizierten sie zu Hause schon lange, die drei Kinder sind weitgehend mit Stoffwindeln gewickelt worden, man mied Flugreisen und bemühte sich, Autofahrten dort zu vermeiden, wo das Ziel fahrradnah lag. Müll warf man dorthin, wo er doch hingehörte: in die Tonne. Von radikaleren Verzichtsvorsätzen war man weit entfernt. Bootes Film rüttelte die heute 41jährige Physiotherapeutin auf. „Bis vor hundert Jahren hat die Menschheit existiert, ohne überall Müll zu hinterlassen, der Jahrhunderte braucht, um zu verrotten und dabei auch noch Gift freisetzt“, meinte die Familienmutter und entschloß sich nach Absprache mit Mann und Kindern zu einem waghalsigen Experiment: Wir versuchen, einen Monat lang plastikfrei zu leben.

Erst wurde ausgemistet, und zwar bildmächtig: Hinter dem Berg an Plastikstühlen, Funktionskleidung, Spielparkhäusern und Tortentransportierhilfen ist nunmehr der Giebel des Wohnhauses bei Graz zu sehen.

„Wir sind keine Sektierer und keine Asketen, wir wollen nicht zurück ins 19. Jahrhundert, Plastik ist nicht ‘unser Feind’“, sagt Frau Krautwaschl. Die Sache sollte nebenbei Spaß machen und keine zusätzlichen Einkaufsfahrten und Kosten bedeuten.

Kleine Kompromisse waren eingeschlossen: Fahrräder und Sportschuhe blieben, über den Plastikeinsatz in vielen Glasflaschendeckeln sah man letztlich hinweg. Mit sympathischer Selbstironie – der „faire“ Käufer kommt vom Hundertsten ins Tausendste; kann man Merinowollkleidung kaufen, wenn sie dazu einmal um die halbe Welt gekarrt werden muß? – beobachtet sich die Familie nun seit zweieinhalb Jahren dabei, wie man sich auf dem schmalen Grat zwischen Verschwendung und Weltrettungshysterie verantwortungsvoll verhalten kann.

Natürlich hat sich Sandra Krautwaschl gefragt, ob es nicht verrückt ist und übertrieben, nach Zahnbürsten oder Damenhygieneartikeln zu forschen, die ohne Plastik auskommen. Jedenfalls: Es funktioniert ziemlich gut. Verrückt erscheinen eher Fakten wie diese: daß 10.000 Substanzen für die Herstellung von Kunststoffen verwendet werden (davon ein Bruchteil als „unbedenklich“ zertifiziert), daß jährlich 80 Milliarden T-Shirts produziert werden, daß in vielen Gebrauchsgegenständen eine „geplante Obsolenz“, ein Haltbarkeitsende, gleichsam mit eingebaut ist, so daß der Folgekonsum gesichert ist.

Einem Selbsterfahrungsblog folgten zahlreiche Medienauftritte und zuletzt ein höchst unterhaltsames Buch. Hier gibt Sandra Krautwaschl Auskunft darüber, wie ein plastikfreies Leben gelingen kann. Neben Einkaufstips finden sich Hinweise auf Alternativprodukte aus natürlichem Kunstoff, Baumwolle und Holz.

www.keinheimfuerplastik.at

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