© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/12 10. August 2012

Kühles Herz, spitze Zunge
Nachruf: Zum Tode des Autors Gore Vidal
Silke Lührmann

Das Leiden des zivilisierten Menschen ist sein Wissen um den Tod. (…) Die Schöpfung eines Kunstwerks ist, wie ein Akt der Liebe, unser einziges kleines ‘Ja’ mitten in einem gewaltigen ‘Nein’“, schrieb Gore Vidal 1953 in einem Beitrag für das von ihm mitbegründete Magazin New World Writing. Das war weder kitschig noch sentimental gemeint, sondern Ausdruck eines eher humanistischen als existentialistischen Bewußtseins der – durchaus auch ästhetisch gemeinten – Verantwortung für das eigene Tun und Lassen, erst recht für das eigene Schaffen. Das gute Leben war für ihn immer auch eine Frage des Stils, und letzteren definierte er an anderer Stelle als „wissen, wer man ist und was man sagen will, und sich dann den Teufel drum scheren“.

Der bemüht pietätlose Nachruf einer führenden deutschen Tageszeitung, die ihn als letzte Tunte unter den Machos der US-Literaturszene feierte, hätte dem am 31. Juli im Alter von 86 Jahren Verstorbenen womöglich mehr zugesagt als die anderswo veröffentlichten hymnischen Belanglosigkeiten. Daß er sie am Ende fast alle überlebte – die Machos wie Norman Mailer oder John Updike, die Tunten Truman Capote und Tennessee Williams sowieso, zuletzt sogar den einstigen Freund und designierten Nachfolger als Gewissen und Hüter der US-amerikanischen Republik, Christopher Hitchens –, dürfte ihm eine nicht unbeträchtliche Befriedigung verschafft haben.

Mit Vidals Tod, der zugleich das endgültige Abtreten ebenjener Garde bedeutet, hat die post-ideologische Brot-und-Spiele-Gesellschaft einen ewigen Mahner verloren, der noch den Unterschied zwischen dem Politischen und dem Persönlichen kannte und mit kühlem Herzen und spitzer Zunge verteidigte: zwischen der bedingungslosen Freiheit im Privaten und der unbedingten Notwendigkeit einer am Gemeinwohl ausgerichteten öffentlichen Moral. Ob unter der jüngeren Generation der US-Literaten ein Jonathan Franzen oder Dave Eggers den Schneid und die Statur aufbringt, diese Vakanz zu füllen, muß sich nun herausstellen.

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