© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/12 10. August 2012

Die Antwort auf eine Siegergeschichte
Roberto de Mettei deutet das II. Vatikanische Konzil mit einer Gegenerzählung
Wolfgang Spindler

Fünfzig Jahre nach seiner feierlichen Eröffnung am 11. Oktober 1962 kommt das Zweite Vatikanische Konzil nicht zur Ruhe. Zwar ist es nach vier Sitzungsperioden am 8. Dezember 1965 beendet worden. Die Debatte über Tragweite und Bedeutung, über Absichten, Inhalt und Folgen des 21. Ökumenischen Konzils der Geschichte dauert jedoch an. Das liegt nicht zuletzt an der Chefkritikerin des Konzils, der Priesterbruderschaft Pius X. Bei den Bemühungen des amtierenden Pontifex, die ins Abseits geratenen, freilich vitalen Piusbrüder zurück ins modernitätsgeschädigte Schifflein Petri zu holen, spielt – je nach Sichtweise – das „Erbe“ (Benedikt XVI.) oder das „Verhängnis“ (Marcel Lefebvre) des jüngsten Konzils eine gehörige Rolle. Während die Traditionalisten die Rückkehr zum Status quo ante in Lehre, Liturgie und Disziplin fordern, ist „Rom“ bemüht, die aus dem Ruder gelaufenen praktischen Umsetzungen und Fortschreibungen der „Erneuerung“ in geordnete Bahnen zu lenken (JF 52/11).

Die Geschichte des Konzils haben indessen andere geschrieben. Einer kleinen, durchsetzungsstarken Minderheit progressistischer Kräfte war es gelungen, die Lufthoheit über die Konzilsinterpretation zu erlangen. Sie machte damit ihre Niederlage wett, die sie bei dem gescheiterten Versuch erlitten hatte, die vom Vaticanum I (1869–1870) gefestigte Kirchenverfassung, vor allem die Vorrangstellung des Papstes, auf dem Vaticanum II zurückzunehmen oder auszuhebeln. Ein Zweig formierte sich zur „Schule von Bologna“. Unter Giuseppe Alberigo (1926–2007) hat diese in mehreren Sprachen eine fünfbändige „Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils“ herausgebracht, die einzige dieses Umfangs. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei das sensationell „Neue“ an diesem Konzil, der angebliche „Bruch“ mit der Vergangenheit. Der Kirche komme es zu, dieses Ereignis im „Geiste des Konzils“ fortzuspinnen und sich stets neu zu erfinden. Da es den „Anschluß an die Moderne“ gebracht habe, erscheint das Vaticanum II als Zäsur. Und die Bischöfe und Theologen – allen voran Deutsche, Franzosen und Belgier –, die den Fortschritt errungen haben, werden als Helden geführt.

Roberto de Mattei (geboren 1948), Professor für Geschichte des Christentums an der Università Europea in Rom, hat auf diese Siegergeschichte mit einer Gegenerzählung geantwortet. Nun liegt diese in passabler Übersetzung auf deutsch vor. Die mit dem renommierten „Premio Acqui Storia“ ausgezeichnete Arbeit rekonstruiert eine „bislang ungeschriebene Geschichte“ insofern, als sie die Perspektive wechselt. Erstmals werden die konservativen Protagonisten angemessen gewürdigt.

Die Verfechter der „Öffnung zur Welt“ erscheinen nicht mehr als Heilsbringer, sondern als strategisch vorgehende Ideologen und Revolutionäre, wie 1789 ff. aufgeteilt in Jakobiner und Girondisten. Mit Hilfe von „Startheologen“ wie Rahner, Küng, Chenu, Congar und für Spenden zu Dank verpflichteten Dritte-Welt-Bischöfen hebelten die Progressisten unter dem Applaus der Medien die altfränkisch agierende Kurie aus und trimmten die Mehrheit der arglosen, schlecht vorbereiteten Konzilsväter auf Anpassungskurs. Mit dem Ergebnis, daß zumindest die Minimalpositionen durchgeboxt wurden. Die auf Kompromissen beruhende Mehrdeutigkeit mancher Texte, das Verbleiben im Ungefähren ließ genug Spielraum für fortschrittszentrierte Deutungen.

Der Autor gliedert seinen Stoff in sechs große Teile. Nach einer Einleitung, in der er die seit der Weihnachtsansprache Benedikts XVI. von 2005 diskutierten theologischen Hermeneutiken von der historischen Methode abgrenzt, seinen geschichtsphilosophischen Ansatz skizziert und die Quellen – darunter ungedruckte Konzilstagebücher – vorstellt, widmet sich der erste größere Abschnitt der Übergangszeit von Pius XII. (1939–1958) zu Johannes XXIII. (1958–1963), also der Vorgeschichte und den Anfängen des Vaticanum II.

Während das Pontifikat Pius’ XII. oft als letztes Aufflackern triumphalistischer Machtentfaltung beschrieben wird, richtet de Mattei das Augenmerk auf die sich bereits abzeichnende Krise. Ihre Ursachen sieht er in dem nur halbherzig bekämpften Modernismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet. Eine „Dritte Partei“ zwischen Modernisten und Antimodernisten sei zur bestimmenden Kraft, auch des Lehramtes, geworden.

Deren Irenik habe maßgeblich dazu beigetragen, daß für überwunden gehaltene heterodoxe Strömungen während des Konzils wiederaufleben konnten und die durch Bibelkritik, Immanentismus und Ökumenismus verunsicherte Kirche von innen her aushöhlten, bis hin zur „Selbstzerstörung“ (Paul VI.). Wie dieser Prozeß im einzelnen vonstatten ging, schildert de Mattei in vier weiteren Kapiteln. Die Entscheidung, dabei chronologisch vorzugehen, macht zwar das Ineinandergreifen der konziliaren Fragen sichtbar, stiftet aber Verwirrung, etwa durch die mehrmals thematisierte Implementierung des „Bischofskollegiums“ in das Kirchengefüge.Als größte Unterlassungssünde kennzeichnet der Verfasser die unterbliebene Verurteilung des Kommunismus. Hier versteigt er sich zu der These, sie sei der Preis für die vom Kreml gewährte Einreise orthodoxer Konzilsbeobachter aus der UdSSR gewesen, ein prekäres Detail vatikanischer Ostpolitik. De Mattei übersieht: Die von den Kanzeln verkündete Verurteilung der Judenverfolgung in den Niederlanden vom Juli 1942 hatte zur landesweiten Deportation katholischer Juden, zu hundertfachem Mord durch die Nazis geführt, etwa an Edith Stein. Ähnliches hätte Katholiken im Ostblock blühen können.

Glanzpunkt des Buches ist das Schußkapitel über die ganze „Konzilsepoche“ (1958–1978). Alle Illusionen, die mit dem Konzil verbunden waren, werden schonungslos offengelegt. Der Leser erhält einen psychologischen Interpretationsschlüssel, mit dem er erahnen kann, wie es zu dem Zerfall der bedeutendsten Institution des Abendlandes kommen konnte. Der Konzilsrenegat Henry de Lubac (1896–1991) rief 1969 aus: „Welche bedauerlichen Verhältnisse, welcher Abfall aller Art, welche Degradierung (…) verbergen sich (…) unter dem lügenhaften Mißbrauch des Wortes ‘Erneuerung’!“ Eine zweite Auflage des Buches ist angekündigt. Bleibt zu hoffen, daß der neue Verlag die Fehler korrigiert und ein dringend erforderliches Personenverzeichnis anfügt.

 

Dr. Wolfgang Hariolf Spindler ist Jurist und als katholischer Theologe stellvertretender Vorsitzender des Instituts für Gesellschaftswissenschaften in Bonn und Vizeredaktionsleiter der „Neuen Ordnung“.

Roberto de Mattei: Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte. Edition Kirchliche Umschau, Ruppichteroth 2011, broschiert, 667 Seiten, 34,90 Euro

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