© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/12 17. August 2012

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Ich weiß noch, wie dieses Land einmal war, als ich heranwuchs. Wir gingen zur Kirche, wir aßen mit der ganzen Familie gemeinsam zu Abend und es wäre einem Kind nicht im Traum eingefallen, einem Erwachsenen zu sagen, er solle sich verpissen. Es war vieles schlecht damals, das hab ich nicht vergessen. Aber wir wußten alle ganz genau, woran wir waren, und wir setzten uns nicht so einfach über die Regeln hinweg. Wenn sich das für Sie banal anhört, wenn es sich öde oder altmodisch oder uncool anhört, dann denken Sie mal über folgendes nach: Die Leute haben Fremde angelächelt, die Leute haben Nachbarn guten Tag gesagt, die Leute haben ihre Türen unverschlossen gelassen und alten Frauen die Einkaufstaschen getragen, und die Mordrate lag knapp über Null. Irgendwann seitdem sind wir verwildert. Wildheit breitet sich in der Luft aus wie ein Virus, und das tut sie noch immer. Schauen Sie sich die Horden von Jugendlichen an, die durch die Stadtviertel stromern, hirnlos und zügellos wie Paviane, stets bereit, irgendwas und irgendwen zu zerstören. Schauen Sie sich die Geschäftsmänner an, die sich an schwangeren Frauen vorbeizwängen, um ihnen einen Platz im Zug wegzuschnappen, die mit ihren dicken SUVs kleinere Autos rücksichtslos aus dem Weg drängen, rotgesichtig und wütend, wenn sich die Welt erdreistet, ihnen zu widersprechen. Schauen Sie sich die Teenager an, die einen Tobsuchtsanfall kriegen, wenn sie mal nicht ausnahmsweise augenblicklich bekommen, was sie wollen. Alles was uns daran hindert, Tiere zu werden, erodiert.“ (Tana French, „Schattenstill“)

Ein sinnfälliger Vorteil des Multikulturalismus, beobachtet bei den Olympischen Spielen: daß auch die weiland nur aus Europäern bestehenden Nationen nach Erweiterung ihres Bevölkerungsspektrums bei den Laufdisziplinen wieder Chancen auf Medaillen haben.

In eine Ecke am alten Palast von Poitiers, leicht übersehbar, hat man die Statue der Jeanne d’Arc von Maxim Real del Sarte verbracht. Die Darstellung zeigt die Jungfrau von Orléans mit gezücktem Schwert entschlossen schreitend, was nicht so bemerkenswert wäre, aber auch geflügelt, also schon erhöht unter die himmlischen Heerscharen, und durch die Strenge des Gesichtsausdrucks und das Knabenhafte der Gestalt ihrem Schutzpatron Sankt Michael bis zum Verwechseln angenähert. Die Plastik selbst ist zwar unbeschädigt, aber die ursprünglich an den Seiten angebrachten Bronzetafeln hat man abgeschlagen. Dahinter steht sicher eine politische Absicht. Denn Real del Sarte gehörte zu den Gründern der Camelots du Roi, also der „Straßenjungen des Königs“, jener Miliz, die sich die royalistische Action Française für den Kampf um die öffentlichen Plätze schuf. Unter den Camelots, einem bunten Haufen aus Studenten, Schülern, Kellnern, Arbeitern, war er ein Held, nachdem ihn die Republik für zehn Monate ins Gefängnis geworfen hatte, wegen massiver Angriffe auf den Historiker Thalama, der an der Sorbonne Lehrveranstaltungen zwecks Entlarvung der zukünftigen Nationalheiligen Frankreichs (die diesen Rang nicht zuletzt den Anstrengungen der Action verdankt) zu halten suchte.

Bildungsbericht in loser Folge XXVI: Den Vorstoß einiger Hochschullehrer, die Öffentlichkeit über den sekundären Analphabetismus deutscher Studenten aufzuklären, hat das Sommerloch geschluckt. Natürlich sind die Bemühungen des Initiators Gerhard Wolf aller Ehren wert, der auch schon in der Vergangenheit nicht müde wurde, den Niveauverlust zu geißeln und darauf hinzuweisen, daß bei zukünftigen Akademikern die Fähigkeit zu sinnentnehmendem Lesen kaum mehr vorausgesetzt werden darf. Aber er scheitert wie andere am Desinteresse der Öffentlichkeit, dem fehlenden politischen Rückhalt – und dem Eindringen jener Ungebildeten in seinen eigenen, den Professorenstand, die gar kein Interesse daran haben können, daß irgend jemand echte Maßstäbe setzt.

Der Fall Real del Sartes regt zu der Erwägung an, ob sich das Auftreten der radikalen Nationalisten zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Kolonialkriege nicht zu einem guten Teil psychologisch erklären läßt: aus dem Widerwillen, die Gesetze des postheroischen Zeitalters zu akzeptieren. Jedenfalls ist die Zahl der hochdekorierten Soldaten in ihren Reihen erstaunlich, auch derjenigen, die ohne Zögern das Leben aufs Spiel setzten, um ihren Ideen Taten folgen zu lassen. Real del Sarte meldete sich 1914 freiwillig und kam mit einer schweren Verwundung und dem Verlust des linken Unterarms davon, setzte seine künstlerische Arbeit trotzdem fort und blieb intransigent wie in der Zeit zuvor.

„Das erste, was wir gemacht haben, als wir zum Menschen wurden, war, vor dem Höhleneingang einen Strich zu ziehen und zu sagen ‘Wilde bleiben draußen!’“ (Tana French, „Schattenstill“).

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 31. August in der JF-Ausgabe 36/12.

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