© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/12 17. August 2012

Agonie am Stacheldraht
Vor fünfzig Jahren wurde Peter Fechter an der Berliner Mauer erschossen
Matthias Bath

Am frühen Nachmittag des 17. August 1962, nur wenige Tage nach dem ersten Jahrestag des Mauerbaus, versuchten der achtzehnjährige Maurer Peter Fechter und dessen gleichaltriger Kollege Helmut Kulbeik in der Zimmerstraße in Berlin-Mitte, über die Mauer nach West-Berlin zu flüchten. Sie wurden kurz vor Erreichen der Mauer von DDR-Grenzern entdeckt und sofort beschossen. Während es Kulbeik gelang, sich im Kugelhagel an der Mauer hochzuziehen und durch den auf der Mauer angebrachten Stacheldraht zu zwängen und so wohlbehalten nach West-Berlin zu kommen, stürzte Fechter von einem Bauchdurchschuß schwer verletzt unmittelbar vor der Mauer auf deren östlicher Seite zu Boden.

Die beiden Freunde hatten sich schon seit längerem mit Fluchtgedanken befaßt, wobei für Peter Fechter sicher auch eine Rolle spielte, daß ihm im Sommer 1962 die Erlaubnis für einen Besuch seiner in West-Berlin lebenden ältesten Schwester verwehrt worden war. Kulbeik und Fechter hatten seit Anfang 1962 auf einer Baustelle an der Straße Unter den Linden gearbeitet. Von hier aus hatten sie bei Spaziergängen während ihrer Mittagspausen die innerstädtischen Grenzanlagen auf der Suche nach einer geeigneten Fluchtmöglichkeit erkundet. Am 15. August entdeckten sie so in der Schützenstraße eine Teilruine, in deren Erdgeschoß sich eine Tischlerei befand, deren Räume bis zur Zimmerstraße und damit direkt an den Todesstreifen reichten.

Zwei Tage später beschlossen sie während ihrer Mittagspause spontan, nicht mehr zur Baustelle zurückzukehren, sondern sich in der Tischlerei zu verstecken. Zwei Stunden später sprangen sie von hier aus einem Lagerraum durch ein Fenster auf die Zimmerstraße und liefen durch den Grenzstreifen auf die wenige Meter entfernte Mauer zu. Kurz darauf fielen gegen 14.10 Uhr auch schon die ersten Schüsse. Zufällig befand sich auf westlicher Seite ein Kamerateam, das eine Reportage über die Berliner Mauer drehen wollte. Sehr schnell waren auch etliche Fotografen am Tatort. Die Mauerwächter, die mindestens 24, vielleicht aber auch bis zu 35 Schüsse abgegeben hatten, hatten sich zurückgezogen und waren nicht mehr zu sehen.

Der verblutende Peter Fechter schrie vor Schmerzen und rief immer wieder: „Helft mir doch, bitte helft mir doch!“ West-Berliner Polizisten fragten ihn, auf einer Leiter stehend, über die Mauer hinweg nach seinem Namen und warfen ihm Verbandspäckchen zu. Doch mehr konnten sie nicht tun. Die US-Militärpolizei vom nahe gelegenen Grenzübergang Checkpoint Charlie hätte zwar aufgrund des Viermächte-Status Berlins ohne weiteres Ost-Berliner Gebiet betreten dürfen und Fechter somit bergen können, aber sie weigerte sich einzugreifen. Die kaltschnäuzige Erklärung eines US-Offiziers „It’s not our problem“ ist in das kollektive deutsche Erinnern eingegangen. Schließlich verstummten die Schreie vom Todesstreifen und Fechter regte sich nicht mehr. Kurz nach 15 Uhr wurde der leblose Körper von Grenzsoldaten und DDR-Polizisten abtransportiert.

Die Bilder vom qualvollen Sterben Peter Fechters an der Mauer machten ihn weltweit zu einem Symbol für die Unmenschlichkeit des DDR-Regimes. In Berlin zeigten sie darüber hinaus das stillschweigende Einvernehmen der Besatzungsmächte über die Teilung Deutschlands und Berlins einmal mehr auf und lösten hier empörte Reaktionen aus, die die Stadt tagelang in Atem hielten.

Am Sonnabend, dem 18. August 1962, erschien die Berliner Ausgabe der Bild-Zeitung mit der Schlagzeile „Vopos ließen 18jährigen verbluten – Amis sahen zu“. In den folgenden Tagen kam es in West-Berlin zu gewaltsamen Demonstrationen, an denen sich Tausende empörter Menschen beteiligten. Der Polizei gelang es nur mit Mühe, die meist jugendlichen Demonstranten daran zu hindern, die Mauer zu stürmen. In der Nacht vom 19. zum 20. August zogen mehr als 5.000 Demonstranten von der Mauer in Kreuzberg durch die Stadt zum Schöneberger Rathaus, wo sie lautstark den Berliner Senat und die Westalliierten zum Handeln aufforderten. Die Demonstrationen bekamen nun angesichts der erkennbaren Untätigkeit der westlichen Alliierten eine ausgeprägt antiamerikanische Note.

Für etliche der damals Aufbegehrenden standen die Ereignisse des August 1962 am Beginn eines Erkenntnisprozesses, daß das eigentliche Problem der Nachkriegsordnung in Deutschland, Europa und der Welt weniger der Ost-West-Konflikt, als vielmehr die Aufteilung der Welt in die Einflußsphären der Siegermächte von 1945 war. Manche von ihnen werden wenige Jahre später gleichermaßen gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner wie gegen die sowjetische Intervention in der CSSR demonstriert haben. 1997 wurden zwei der Grenzsoldaten, die damals auf Peter Fechter geschossen hatten, zu milden Bewährungsstrafen verurteilt.

Foto: Der ermordete Peter Fechter wird von DDR-Grenzern abtransportiert: Qualvolles Sterben wurde zum Symbol für die Unmenschlichkeit

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