© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/12 17. August 2012

Liliputaner im All
Kosmonautengarn: Legenden aus der sowjetischen Raumfahrt
Jürgen W. Schmidt

Viele Legenden und Gerüchte rankten sich zu Sowjetzeiten um die bemannte Weltraumfahrt. Hartnäckig hielt sich die Mär von heldenhaften KGB-Männern, die sich freiwillig die Beine amputieren ließen, um kürzer zu werden. Danach gewährleisteten sie als „lebende Bordinstrumente“ das reibungslose Abkoppeln einzelner Raketenstufen und steuerten persönlich das Mondauto „Lunochod“ über die Mondoberfläche.

Als zwei aus Geheimhaltungsgründen stets nur Nr. 13 und Nr. 14 genannte KGB-Männer sich vor ihrem Erstickungstod auf dem Mond pflichtbewußt in der Raumfahrtzentrale abmeldeten, hätten selbst alte Geheimdienstgenerale wie kleine Kinder geweint. In seinem unterhaltsamen Buch „Der geheime Kosmos – Gab es Vorgänger von Gagarin?“ (Moskau 2011) hat der russische Wissenschaftsjournalist Aleksandr Shelesnjakow viele Geschichten zusammengetragen, die in der Sowjetunion, aber nicht nur dort kursierten.

So meldete sich angeblich 1961, als Kosmonaut Juri Gagarin als „erster Mensch im Weltraum“ gefeiert wurde, ein sehr empörter DDR-Bürger bei den Behörden, weil er wegen seines Einsatzes als Kosmonaut im Dritten Reich auf diesen Titel prätendierte. Man sperrte ihn schnell in einer psychiatrischen Einrichtung weg. Daß man sowjetischerseits dem Dritten Reich auf dem Gebiet der bemannten Raumfahrt einiges zutraute, bewies 1990 ein Aprilscherz, dem viele Russen aufsaßen.

Unter Berufung auf das amerikanische Journal National Geographic hatten russische Medien gemeldet, daß amerikanische Seeleute im Atlantik auf einen Flugapparat mit drei deutschen Kosmonauten gestoßen waren. Diese damals von Adolf Hitler persönlich ausgewählten Weltraumfahrer waren 1943 von Pee­nemünde aus in den Kosmos gestartet und sollten erst dann wieder landen, wenn die Hakenkreuzflagge über der ganzen Welt weht.

Während heute noch manche Amerikaner daran zweifeln, daß die Nasa-Mondmissionen tatsächlich auf dem Mond weilten, kursieren im Gegenzug in Rußland Legenden, daß sowjetische Kosmonauten bereits 1938 den Erdtrabanten aufsuchten. Im Jahr 2000 wurde in Rußland sogar der Film „Die Ersten auf dem Mond“ angekündigt, der unter Verwendung angeblicher Dokumentaraufnahmen und nach Aussagen von Zeitzeugen über eine seinerzeit im Werk „Uralchimmasch“ montierte und nahe Saratow gestartete Mondrakete berichten wollte.

Die sechsköpfige Besatzung stand unter dem Kommando von Iwan Charlamow und setzte sich aus Gewichtsgründen hauptsächlich aus Liliputanern zusammen. Leider ist der angekündigte Film dann doch nicht gezeigt worden, so daß das weitere Schicksal von Charlamow, der 1939 allein und psychisch gestört auf die Erde zurückkehrte, ungeklärt bleibt. Wahr ist jedoch eine andere, fast unglaubliche Geschichte, die der berühmte sowjetische Testpilot Sergej Anochin kurz vor seinem Tod 1986 im Interview erstaunten Reportern anvertraute. Er war nämlich, obwohl kein Kosmonaut, bereits zu Beginn der fünfziger Jahre „mit Raketen geflogen“.

Anochin gehörte zu einem Geheimkommando, das militärische Langstreckenmarschflugkörper testete. Diese raketenähnlichen Flugkörper sollten, von Menschen gesteuert, im Falle einer Verwicklung der Sowjetunion in den Koreakrieg amerikanische Flugzeugträger vernichten, und es gab damals tatsächlich 150 bemannte Testflüge.

Eine Vielzahl von Gerüchten berührt streng geheime Unglücksflüge sowjetischer Kosmonauten. So soll der Sohn des berühmten Flugzeugkonstrukteurs Iljuschin bereits einige Monate vor Gagarin im Raumschiff „Rossija“ die Erde umrundet haben. Doch klappte die Landung nicht und Iljuschin schlug schwerverletzt in China auf. Die Chinesen pflegten ihn zwar in einem Bergkloster wieder gesund, lieferten aber Wladimir Iljuschin zeitlebens nie an die Sowjetunion aus, so daß man ihn offiziell nicht zu den sowjetischen Kosmonauten zählt.

Einen gewissen Medienruhm während des „Kalten Krieges“ erlangten drei italienische Funkamateure, die darauf spezialisiert schienen, letzte Worte sowjetischer Kosmonauten aufzufangen, bevor sie auf Nimmerwiedersehen in die Weiten des Weltraums abdrifteten. Einer der dramatischen „Mitschnitte“ aus dem Jahr 1961 klang so: „Sauerstoff! Genossen! Kann ich noch was machen? Was? Oh, zum Teufel! Ich kann nicht! Versteht ihr? Versteht ihr? …“

Menschlich verständlich ist, daß auch für Sowjetmenschen das Thema „Sex im Kosmos“ große Bedeutung hatte und man deshalb bereitwillig an alle möglichen derartigen Experimente im All glaubte. Sowjetische Studien belegten angeblich, daß Sex in der Schwerelosigkeit gar nicht so einfach ist, wie mancher Laie glaubt. Hatten sich die Körper mühsam gefunden und vereint, dann stießen sie sich schnell wieder ab, denn der Samenausstoß erfolgt im All mit einer gemessenen Geschwindigkeit von fünf Metern pro Sekunde.

Über solche und andere „Sexperimente“ berichtete nach 1990 in russischen Medien ein angeblicher Bordarzt namens Jurij Sergejewitsch Sch., der es im Dienste der Wissenschaft mit der Bordingenieurin „Leletschka“ treiben mußte. Solange noch ein Hauch von Geheimhaltung bei Raumflügen existiert, werden diese auch die reiche Phantasie des russischen Volkes beflügeln.

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