© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/12 24. August 2012

„Loser Bund souveräner Staaten“
O_ ziell hat Belgien seine Staatskrise Ende 2011 gemeistert, doch tatsächlich sind die Probleme nicht gelöst, meint Bart Maddens. Der Belgien-Experte ist sich sicher: Der Zerfall des Königreichs hat bereits begonnen, die Unabhängigkeit Flanderns kommt.
Moritz Schwarz

Herr Professor Maddens, wundern Sie sich, daß Belgien immer noch existiert?

Maddens: Ja und nein.

Inwiefern?

Maddens: Einerseits wächst der Zuspruch für die flämisch-nationalistischen Parteien stetig, die in Flandern zusammen schon bei 44 Prozent liegen, zum anderen gab es schon bei Gründung des Königreichs Belgien im Jahr 1830 mehrere Stimmen, die meinten, diese Konstruktion könne nicht bestehen – und nun sind es schon 182 Jahre seitdem.

Ihr Tip?

Maddens: Belgien wird formal weiterbestehen, de facto aber werden sich Flandern und die Wallonie trennen.

Wie das?

Maddens: Meine Prognose ist, daß beide Landesteile früher oder später politische Selbständigkeit erlangen werden, während Belgien schließlich nur noch so etwas wie das britische Commonwealth sein wird, ein loser Bund souveräner Staaten mit einem gemeinsamen Monarchen, aber verschiedenen Regierungen.

Wann wird es soweit sein?

Maddens: Das hängt von den Wahlergebnissen ab. Haben die flämisch-nationalistischen Parteien wachsenden Erfolg bei den Wählern, wird der Prozeß sich schneller vollziehen, als wenn die Erfolge verhalten sein sollten.

Warum aber kommt es nicht zu einem klaren Bruch?

Maddens: Weil der Konflikt kompliziert ist.

Worum geht es?

Maddens: Der Konflikt hat vor allem zwei Komponenten: Sprache und Nationalität, sowie wirtschaftliche Gründe.

Welche Komponente ist die ausschlaggebende?

Maddens: Begonnen hat der Konflikt im 19. Jahrhundert als Sprach- und Nationalitätenkonflikt, da sich die Flamen damals im eigenen Land kulturell nicht gleichberechtigt sahen. Aber von den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts an, als Flandern einen erheblichen wirtschaftlichen Aufstieg erlebte, gewann die ökonomische Komponente Schritt für Schritt an Bedeutung. Heute ist Belgien so etwas wie eine Transferunion, mit erheblichen Geldleistungen des ehemals ärmeren, heute reicheren, niederländischsprachigen Flandern an die ehemals wohlhabendere, heute strukturschwache französischsprachige Wallonie.

Nach den Wahlen vom Juni 2010 war Belgien 541 Tagen ohne ordentliche Regierung, weil sich Flamen und Wallonen nicht einigen konnten – Weltrekord!

Maddens: Ja, und der Kompromiß vom Dezember 2011 wurde zudem nur deshalb getroffen, weil der Druck auf die Politiker inzwischen so gestiegen war.

Mancher Beobachter hatte schon nicht mehr daran geglaubt, daß das Land die Krise überleben würde.

Maddens: Man muß bedenken, daß Flandern im Norden und die Wallonie im Süden gar nicht so einfach getrennt werden können. Und zwar weil die Hauptstadt Brüssel in Flandern liegt, aber – offiziell zweisprachig – tatsächlich mehrheitlich französischsprachig ist. Damit wirkt Brüssel wie eine Art Klammer, die die beiden Landesteile verbindet und eine Trennung mit einem „sauberen Schnitt“ kaum möglich macht.

Ausgelöst wurde die Krise von 2010 maßgeblich durch den Streit um den Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV). Wie kann ein einzelner Wahlkreis ein ganzes Land an den Rand des Zusammenbruchs bringen?

Maddens: In Belgien gilt, daß in Flandern nur flämische, in der Wallonie nur französischsprachige Parteien antreten. Der Wahlkreis BHV besteht allerdings aus der Hauptstadt Brüssel und dem flämischen Landkreis Halle-Vilvoorde, in dem aber auch etliche Französischsprachige leben. Weil es ein gemeinsamer Wahlkreis ist, können die Frankophonen im Landkreis Halle-Vilvoorde nun auch für die frankophonen Parteien stimmen, die im zweisprachigen Brüssel antreten. Das aber erregt den Unmut der Flamen, weil das gegen das territoriale Prinzip verstößt, nach dem Halle-Vilvoorde zum flämischen Teil des Landes gehört. Der Konflikt um BHV ist also eng verknüpft mit dem Grundkonflikt in Belgien, daher seine enorme symbolische Bedeutung. Natürlich aber war BHV nicht „der“ Grund für die Krise, sondern „ein“ Grund.

Brüssel liegt in Flandern, wieso ist die Mehrheit dort heute französischsprachig?

Maddens: Es stimmt, daß Brüssel eigentlich eine flämische Stadt war, nur die Eliten sprachen dort bereits im 18. Jahrhundert Französisch. Als es 1830 Hauptstadt des neuen Königreichs Belgien wurde, war der neue Staat zwar ein zweisprachiger, aber vom Französischen dominiert, da dies die Sprache seiner politischen Klasse war. Der Hauptgrund ist also, daß die Flamen, die politisch oder sozial etwas werden wollten, französisch wurden, aber auch die Einwanderung französischsprachiger Wallonen.

Ist der flämisch-wallonische Konflikt denn nun mit der Bewältigung der Krise im letzten Dezember beigelegt?

Maddens: Keineswegs. Die meisten der ins Auge gefaßten Reformen werden immer noch im Parlament debattiert und verabschiedet. Konkret geht es etwa um die Reform des Senats – der zweiten Kammer des belgischen Parlaments –, um neue Kompetenzen für die belgischen Bundesländer und um eine neue Finanzgesetzgebung. Vor allem in Flandern gibt es aber heftige Opposition gegen diese Reformen, die vielen Flamen nicht weit genug gehen – nur eine dünne Mehrheit ist dafür. Der Konflikt wird also auch die nächsten Jahre ganz oben auf der politischen Agenda rangieren.

Die Reformen sollen bis 2014 umgesetzt werden – dann aber müßte der Konflikt doch gelöst sein?

Maddens: Nein, denn tatsächlich reichen die Reformen nicht wirklich an die Wurzel der Probleme.

Wenn aber Belgien selbst in der Krise von 2010 nicht zerbrochen ist, warum sollte es in Zukunft geschehen, wie Sie vermuten?

Maddens: Zum Beispiel weil die flämisch-nationalistischen Parteien wohl schon bei den kommenden Kommunalwahlen im Oktober, aber vor allem im Juni 2014 bei den nationalen und regionalen Wahlen weiter zulegen werde. Dann werden vermutlich neue Forderungen erhoben werden, so daß der Konflikt sich erneut zuspitzen könnte. Zudem beschwören die geplanten Reformen neue Probleme herauf, weil sie eher darauf abzielten, die Situation 2011 zu beruhigen, als die Probleme grundsätzlich zu lösen.

Zum Beispiel?

Maddens: Etwa wurde die Kompetenz-aufteilung oder der Finanzausgleich nun noch komplizierter geregelt als zuvor. Oder: Bisher urteilte eine flämische Kammer des Staatsrates – des belgischen Bundesgerichtshofes – über Sprachkonflikte in der Brüsseler Peripherie. In Zukunft wird das eine zweisprachige Kammer übernehmen. Auf diese Weise wird der Konflikt nicht gelöst, sondern in die Judikative hinein verschoben.

Wenn die Probleme nur verschoben wurden, warum eskalierte der Konflikt dann nicht schon während der Krise von 2010?

Maddens: Das hat mit der inneren Balance der etablierten Parteien in Belgien zu tun: Diese haben sowohl flämisch-autonomistische, wie auch belgisch-nationale Strömungen. Durch den Druck, der Krise, gerieten die pro-belgischen Strömungen innerhalb der Parteien in Vorteil, weil sie gegen eine radikale Reform des Staates und damit für eine schnellere Befriedung der Krise eintraten, als die Strömungen, die noch mehr Autonomie forderten – was zunächst ja zu einer Ausweitung der Krise geführt hätte. Zudem hatte man bis Juni 2011 noch versucht, die führende flämische Separatisten-Partei, die N-VA, bei der Lösung der Krise einzubeziehen.

Bei den letzten Wahlen im Juni 2010 avancierte die relativ junge „Neu-Flämische Allianz“ (N-VA) mit über 17 Prozent und 27 Sitzen zur stärksten Partei Belgiens. Warum dieser plötzliche Erfolg?

Maddens: Der erhebliche Zuwachs an Stimmen für die N-VA geht vor allem auf den ökonomischen Teil des Konfliktes zurück. Die N-VA weiß ihre Botschaft effektiv zu formulieren: Flandern befinde sich wirtschaftlich in der Rezession, weil es nicht die gesetzgeberischen Kompetenzen habe, um selbst eine effektive Wirtschaftspolitik zu gestalten. Das verbindet – sehr vereinfacht ausgedrückt – geschickt das traditionelle flämische Empfinden mit dem ökonomischen Argument. Zudem muß man bedenken, daß das belgische System des Länderfinanzausgleichs äußerst intransparent ist. Die Flamen überdies reklamieren, daß die wallonische Wirtschaft sich trotz allem nicht entwickelt, die Transferleistungen also keinen helfenden Effekt haben, sondern nur zu einer Abhängigkeit der Wallonie von den Zahlungen führten.

Die N-VA überflügelte die traditionelle Unabhängigkeitspartei Flanderns – den Vlaams Belang, der 2010 mit nur zwölf Sitzen gerade mal siebtstärkste Partei wurde – bei weitem. Warum gelingt es dem Vlaams Belang, der seit Jahrzehnten für die Loslösung von Belgien eintritt, nicht, ein Wahlergebnis wie die N-VA zu erzielen?

Maddens: Beide Parteien sind für die Unabhängigkeit Flanderns und beide Parteien sind im rechten Spektrum angesiedelt. Aber bei der Zuwanderung etwa gibt es einen erheblichen Unterschied, die N-VA ist in dieser Frage eher wie eine herkömmliche konservative Partei positioniert, etwa so wie Ihre CSU in Deutschland. Das heißt, im Gegensatz zum in dieser Frage weit radikaleren und stark anti-multikulturell und anti-islamisch orientierten Vlaams Belang hat die N-VA hier eine Mainstream-Position. Das gleiche gilt für das Verhältnis zur EU: Während der Vlaams Belang ausgesprochen EU-feindlich ist, ist die N-VA sehr pro-europäisch. Außerdem gibt es erhebliche Unterschiede im Auftreten. Der Vlaams Belang pflegt einen wesentlich aggressiveren Stil, ähnlich dem eines Geert Wilders in Holland. Die N-VA dagegen tritt viel moderater auf. Das goutieren die Wähler. In der Vergangenheit war der flämische Nationalismus fast ein Exklusivthema der extremen Rechten, erst die N-VA hat das Thema auch für gemäßigte Wählerschichten erschlossen.

Was, wenn die N-VA im nächsten Jahr in Flandern Regierungspartei wird?

Maddens: Gut möglich, daß nach den nationalen und regionalen Wahlen 2014 die radikalen flämischen Parteien – also N-VA, Vlaams Belang und die rechtsliberale LDD – die Mehrheit in Flandern haben und die N-VA eine neue flämische Regierung anführen wird. Das würde unweigerlich zu einem Konflikt führen, zwischen einer pro-autonomistischen Landesregierung in Flandern und der Bundesregierung in Brüssel, in der die N-VA vielleicht gar nicht vertreten sein wird. Dann würde der Konflikt in eine neue Phase treten.

Bis jetzt ist aber noch nicht klar, ob N-VA-Parteichef Bart De Wever dem Vlaams Belang wirklich ein Angebot machen würde.

Maddens: In der Tat, denn die N-VA hat immer Distanz zum Vlaams Belang gehalten, vor allem in der Einwanderungsfrage. Das ist Teil des Erfolgsrezeptes der N-VA und macht es für die Partei schwierig, 2014 eventuell eine „separatistische“ Koalition mit dem Vlaams Belang zu bilden.

Sollten Flamen und Wallonen sich tatsächlich trennen, was wird dann mit der deutschen Minderheit um Osten des Landes?

Maddens: Die Gebiete der deutschen Minderheit sind kulturell autonom, regional gehören sie aber zur Wallonie. Somit stehen die Deutschen in Belgien politisch näher zur Wallonie als zu Flandern. Im BHV-Konflikt haben sie sich zum Beispiel auf die Seite der Frankophonen gestellt. Im Fall einer Spaltung Belgiens ist es am wahrscheinlichsten, daß sie mit der Wallonie gehen, wenn auch mit beträchtlicher Autonomie.

Würde ein Zerfall Belgiens denn einen Impuls für andere regionale Bewegungen in Europa geben?

Maddens: Ich bin sicher, daß dies erheblichen Einfluß auf ähnliche Konflikte in ganz Europa haben würde. Das ist auch der Grund, warum das europäische Establishment die Entwicklung in Belgien mit soviel Angst und Sorge aufmerksam verfolgt. Denn wenn Flandern mehr oder weniger unabhängig wird, könnte das einen Dominoeffekt in einem Europa der Regionen bewirken: Denken Sie doch nur etwa an Schottland, Katalonien oder das Baskenland.

 

Prof. Dr. Bart Maddens, lehrt Politikwissenschaft an der Soziologischen Fakultät der Katholischen Universität von Löwen in Flandern. Unter anderem beschäftigt er sich dort mit politischen Parteien und sozialen Bewegungen. Der 1963 geborene Flame war zwischenzeitlich auch Sekretär des Zentrums für staatliche Reform des flämischen Parlaments und ist der Vater der sogenannten „Maddens-Strategie“ oder „Maddens-Doktrin“, die eine Reihe von Reformvorschlägen zur Lösung der belgischen Staatskrise vereint und vor allem von der separatistischen „Neu-Flämischen Allianz“ (N-VA) aufgenommen wurde. Die 2001 entstandene N-VA (siehe auch Seite 9) beschreibt sich selbst als eine „flämische nationalistische Partei“, betont aber: „Es scheint, als ginge es in Belgien um ein Problem zwischen ethnischen Gruppen. Das ist nicht der Fall. Das ‘belgische Problem‘ ist kein Problem zwischen Menschen, sondern ein Strukturproblem. Belgien hat sich schrittweise in zwei Demokratien geteilt, dem haben sich unsere Institutionen nicht angepaßt.“

www.n-va.be

Foto: Kongreß der flämischen Unabhängigkeitspartei N-VA in Gent: „Gut möglich, daß die flämischen Parteien schon 2014 die Mehrheit haben ... Dominoeffekt in einem Europa der Regionen“

 

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