© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/12 24. August 2012

„Es gibt keine Belgier“
Unabhängigkeitsbewegung: Vor allem bei den Flamen ist in letzter Zeit das Unbehagen am unregierbaren Kunststaat Belgien weiter gewachsen
Mina Buts

Ein Streit um Zuckerstückchen hat im Frühsommer im belgischen Parlament fast zu einem Eklat geführt. Der wallonische Parlamentspräsident André Flahaut hatte nämlich feststellen müssen, daß diese ausschließlich flämisch beschriftet waren. Er schritt sofort ein und sorgte persönlich dafür, daß zu jeder Tasse Kaffee ab sofort zwei Zuckerwürfel zur Auswahl gereicht werden, einer davon französisch beschriftet.

Vielleicht war das nur eine Retourkutsche für das Vorgehen des flämischen Parlaments, das im vergangenen Jahr kurzerhand, „um die heimische Wirtschaft zu stärken“, das wallonische Mineralwasser zugunsten eines aus Flandern stammenden abbestellt hatte. Eines aber wird durch diesen Kleinkrieg deutlich: Die Kluft zwischen den beiden Landesteilen war noch nie so groß wie jetzt.

Dabei war mit den Staatsreformen in Belgien, die 1970 einsetzten, genau das Gegenteil beabsichtigt worden. Mit einer Stärkung der Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel sowie der gleichzeitigen Einteilung in drei Sprachgemeinschaften, neben der flämischen und wallonischen auch einer deutschsprachigen im Gebiet Eupen-Malmedy, sollte der Antagonismus zwischen „Flaminganten“ und „Wallinganten“ entschärft werden. Und obwohl 2001 mit der fünften Staatsreform inzwischen eine weitgehende finanzielle Eigenständigkeit der Regionen erreicht wurde, ist ein Ende der Föderalisierungen längst nicht in Sicht.

Seit den siebziger Jahren hat sich auch die politische Landschaft gründlich verändert. Mittlerweile gibt es in Belgien sechs Parlamente: Neben dem belgischen ein flämisches, ein wallonisches, eines für die deutschsprachige Gemeinschaft, eines für Brüssel und sogar eines für die Französischsprachigen aus Wallonien und Brüssel. Die einstmals bestehenden belgischen Parteien haben sich längst in flämische und wallonische gespalten, die jeweils nur im entsprechenden Landesteil antreten und gewählt werden können.

Der dabei seit langem zu beobachtende Trend, daß im nördlichen Flandern eher nationalkonservativ, im südlichen Wallonien hingegen eher linkssozialistisch gestimmt wird, erschwert jede Regierungsbildung zusätzlich. Mit einer Verhandlungsdauer von 541 Tagen und dem Verschleiß von sieben mit der Regierungsbildung beauftragten Politikern stellte Belgien nach der Wahl 2010 einen neuen unangefochtenen Weltrekord auf, der sogar ins „Guinness-Buch der Rekorde“ aufgenommen worden ist.

Der wallonische Sozialist Elio Di Rupo ist neuer Ministerpräsident des Landes geworden, Christ- und Sozialdemokraten sowie Liberale aus beiden Landesteilen bilden die Regierung. Da allerdings die größte Partei Belgiens, die rechtskonservative N-VA (Neu-Flämische Allianz), die eine Teilung des Landes anstrebt und mit dieser Forderung 28 Prozent der Wählerstimmen in Flandern erhielt, außen vor blieb, bezeichnen Flamen das Regierungsbündnis häufig als „Minderheitenregierung“.

Es ist ein offenes Geheimnis, daß sich auch die Sprachgemeinschaften während der langwierigen Regierungsfindung auf eine Teilung des Landes vorbereitet hatten. Von wallonischer Seite wurde beim belgischen König Albert II. angefragt, ob er sich vorstellen könne, nur noch Wallonien zu repräsentieren, parallel dazu prüfte eine Arbeitsgruppe im französischen Außenministerium, ob es nicht einen Anschluß an Frankreich geben könnte.

Auch der Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft, Karl-Heinz Lambertz, hat in der Zeit mehrfach Luxemburg besucht, um die Möglichkeiten einer Aufnahme seiner Region auszuloten. Flandern hingegen wäre wirtschaftsstark und selbstbewußt genug, um mit seinen sechs Millionen Einwohnern als eigener Staat bestehen zu können.

Die zehn Milliarden Euro, die heute jährlich von Flandern in den ärmeren Landesteil überwiesen werden, könnten auch gut für den Aufbau eines eigenen Justiz- oder Gesundheitswesens oder gar für die Sanierung der Staatsfinanzen genutzt werden. Was aber würde mit der Haupt- und „Europastadt“ Brüssel, die gleichzeitig die Hauptstadt Flanderns ist, geschehen? Trotz ihrer Lage auf flämischem Gebiet ist die Stadt heute durch und durch französisiert – und islamisiert. Nur ein marginaler Bruchteil der 1,1 Millionen Einwohner spricht noch Niederländisch, mehr als 40 Prozent sind überwiegend nichtintegrierte Moslems, dazu kommen mit steigender Tendenz Nicht-Belgier wie Nato- sowie EU-Mitarbeiter.

Schon längst hat sich um die Stadt ein sogenannter „Ölfleck“ nichtflämischer Besiedlung gebildet. Zu Recht mahnte Flandern daher seit fast einem halben Jahrhundert eine eindeutige Trennung des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV) an, der neben der Stadt auch 19 Randgemeinden umfaßt und in dem als einzigem sowohl flämische als auch wallonische Parteien gewählt werden können.

Die im Juli endlich erfolgte Teilung kam aus der Sicht Flanderns zu spät. Längst haben sich in sechs der Gemeinden wallonische Mehrheiten gebildet, die damit einen Landkorridor von Wallonien in die Hauptstadt schaffen. Falls Belgien jemals geteilt wird, dürfte es damit für eine wallonische Regierung leichter sein, die ohnehin französisierte Hauptstadt für sich zu reklamieren.

Die Zerrissenheit des Landes spiegelt sich auch im gesellschaftlichen Leben wider. Alle Versuche, eine belgische Identität oder gar eine belgische „Nation“ herbeireden zu wollen, sind bislang gescheitert. Daran ändert weder der Hinweis, der Begriff „Belgier“ sei schon in der Antike bei Cäsar vorgekommen, noch die halbjährliche umfangreiche Modebeilage „Dit is belgisch“ zum führenden Nachrichtenmagazin Knack etwas.

Die Gründung des Staates Belgien 1830 aus zwei Völkern mit zwei Sprachen, denen als einzige offizielle das Französische oktroyiert wurde, war ein Geburtsfehler. Die Entstehung einer „Flämischen Bewegung“ war damit gleichsam in die Wiege gelegt. Als 1912 der wallonische Politiker Jules Destrée in einem offenen Brief an den belgischen König Albert I. feststellte: „Sire, es gibt keine Belgier“, antwortete dieser, das sei „absolut wahr.“

Bis heute ist das komplette kulturelle Leben Belgiens zweigeteilt, es gibt keine gemeinsamen Medien, keine gemeinsame Mode, keine gemeinsame Lebensart. Flamen heiraten nicht nach Wallonien und umgekehrt Wallonen nicht nach Flandern; man besucht sich nicht einmal.

Und so ist es nicht einmal verwunderlich, daß in den vergangenen Jahren gleich zwei Romane, die Bürgerkriegsszenarien bei der Auflösung des Staates Belgien beschreiben, zu Bestsellern wurden.

 

Belgien

Belgien ist laut seiner Verfassung von 1994 eine föderale parlamentarische Monarchie, Staatsoberhaupt ist seit 1993 König Albert II.

Von den 10.708.000 Einwohnern sind laut der letzten Volkszählung (aus dem Jahr 2001) 59 Prozent Flamen, 40 Prozent Wallonen. Die deutschsprachige Gemeinschaft macht etwa ein Prozent aus, der Ausländeranteil beträgt gut neun Prozent. Die Amtssprachen sind Niederländisch, Französisch und Deutsch.

Das Parlament besteht aus zwei Kammern, dem Abgeordnetenhaus (150 Mitglieder) sowie dem Senat (71 Mitglieder, davon 40 direktgewählte und 31 von den Regionalparlamenten ernannte).

Gewählt wird in der Regel alle vier Jahre, es besteht Wahlpflicht.

Zudem haben die drei Regionen Flandern, Wallonien und die Hauptstadt Brüssel für ihre Selbstverwaltung jeweils ein eigenes Regionalparlament, genauso wie die drei Gemeinschaften: Flämische (hat ein Gemeinschaftsparlament mit der Region Flandern), Französische und Deutschsprachige Gemeinschaft.

 

Geschichte

1830

Gründung des Königreichs Belgien.

Offizielle Landessprache ist ausschließlich Französisch.

1831 Leopold I. aus dem Haus Sachsen-Coburg-Gotha wird am 21. Juli inthronisiert. Bis heute ist dieser Tag der Nationalfeiertag.

1838

Hendrik Conscience veröffentlicht seinen Roman „Der Löwe von Flandern“, in welchem er für eine Stärkung der flämischen Position innerhalb Bel-giens eintritt.

1898

Mit dem Gleichheitsgesetz wird Bel-gien offiziell zweisprachiges Land.

1908

König Leopold II. muß die ihm privat gehörende Kolonie Kongo an den belgischen Staat abtreten, nachdem dort massive Greuel bekanntgeworden sind.

1914–1918

Belgien wird einer der Hauptkriegsschauplätze; hohe Verluste haben vor allem die flämischen Mannschaften zu beklagen, die oft nicht die Befehle des überwiegend frankophon besetzten Offizierskorps verstanden.

1918

Im „Vertrag von Compiègne“ werden Belgien die preußischen Rheinprovinzen Eupen, Malmedy und St. Vith zugesprochen.

1945

Nachdem sich Tausende Flamen und Wallonen der SS-Legion „Flandern“ oder Division „Wallonien“ angeschlossen hatten, werden in „wilden Säuberungen“ mehr als 53.000 Belgier wegen Kollaboration verurteilt, davon 1.200 zum Tode.

1950

Die Rückkehr Leopolds III. führt in Wallonien und Brüssel zu Generalstreik und bürgerkriegsähnlichen Zuständen und zur Abdankung zugunsten seines Sohnes Baudouin. Die Flamen, die mehrheitlich für die Rückkehr Leopolds III. gestimmt hatten, fühlen sich erneut von den Französischsprachigen hintergangen.

1970

Die Erste Staatsreform leitet eine Föderalisierungswelle in Belgien ein.

1988

Brüssel wird als Region anerkannt, weitere Autonomie der Gemeinschaften.

1996

Die „Dutroux-Affäre“ um den Kindermörder Marc Dutroux erschüttert das Land und zeigt das Versagen staatlicher Instanzen auf.

2004

Beim „Tiefschwarzen Sonntag“ wird die rechtsnationale Partei „Vlaams Belang“ mit einem Viertel aller Wählerstimmen zur stärksten Kraft in Flandern.

2012

Teilung des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde und damit Beilegung eines jahrzehntelang schwelenden Konflikts.

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