© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/12 24. August 2012

Es fällt schwer, ihn nicht zu mögen
US-Republikaner: Mit Paul Ryan bringt Präsidentschaftskandidat Romney mehr Schwung in seinen Wahlkampf
Elliot Neaman

Die US-amerikanische Politik spielt sich zwischen den 40-Yard-Linien ab“, so will es der Volksmund in Anspielung auf das Spielfeld beim American Football, das eine Gesamtlänge von 100 Yards (91,44 Meter) hat und in zwei gegnerische Hälften geteilt ist. Die Politik findet also ein wenig zur Rechten und zur Linken der Mittellinie statt. Die Entscheidung des voraussichtlichen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney für den 42jährigen Kongreßabgeordneten Paul Ryan aus Wisconsin als Vizepräsidentschaftskandidaten wurde allgemein als „kühn“, „radikal“ und „riskant“ kommentiert: mit anderen Worten, weit abseits des sicheren Mittelfeldes.

Dabei war der fromme Wunsch Vater des Gedanken. Hat der eher farblos wirkende Romney, nach allgemeiner Auffassung ein Anzug ohne Inhalt, stets übervorsichtig und stets bereit, sein Fähnlein nach dem Wind zu hängen, tatsächlich einmal Rückgrat bewiesen und sich zu einer dramatischen und prinzipientreuen Handlung hinreißen lassen?

In der Tat war die Entscheidung für Ryan ein kleines bißchen überraschend. Auf den meisten Listen potentieller Kandidaten stand er ziemlich weit unten, weit hinter Gouverneuren wie Tim Pawlenty oder Senatoren wie Rob Portman.

Hätte Romney etwas wirklich Radikales tun wollen, hätte seine Wahl auf eine Frau wie etwa die ehemalige Außenministerin Condoleezza Rice fallen können, über der freilich der Schatten der Bush-Ära hängt. Der junge hispanischstämmige Senator aus Florida Marco Rubio wäre eine populäre Alternative gewesen, ihm fehlt jedoch selbst seiner eigenen Einschätzung zufolge die notwendige politische Erfahrung.

Romney brauchte einen Namen, der geeignet war, die Herzen der Tea Party höher schlagen zu lassen, konnte sich aber kein erneutes Sarah-Palin-Fiasko leisten. Ryan ist ein typischer Washingtoner Karrierepolitiker, der als persönlicher Berater und Redenschreiber verschiedener Politiker und der konservativen Lobbygruppe „Empower America“ arbeitete, bevor er 1998 als 28jähriger in den Kongreß gewählt wurde. Ryan stimmte für sämtliche Milliardenausgaben der Bush-Regierung, von Steuersenkungen über die 400 Milliarden Dollar schweren Arzneimittelbeihilfen bis hin zu zwei Kriegen. Heute sagt er, er bereue es, zum Anwachsen des Schuldenbergs beigetragen zu haben.

Die Kommentatoren arbeiten sich derzeit vor allem an Ryans Begeisterung für die Thesen der vermeintlich libertären Schriftstellerin Ayn Rand (JF 10/12), deren Roman „Atlas Shrugged“ (1957, unter verschiedenen Titeln in deutscher Übersetzung erschienen) als Kultobjekt dient. In Wirklichkeit ist die gebürtige Russin eine widersprüchliche Denkerin, die ihre Erfahrungen als Drehbuchautorin nutzte, um auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges eine atheistische, antikommunistische Botschaft über die Tugenden des Kapitalismus und Individualismus zu verbreiten. Ihr rechts-anarchistisches Manifest ist ein seltsames Credo für einen wertkonservativen irisch-katholischen Kleinstadtjungen wie Paul Ryan.

Man muß Ryan zugestehen, daß er sich neben Ayn Rand auch einige ernstzunehmende liberale und libertäre Autoren zu Gemüte geführt hat, allen voran Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek, deren Einfluß in Ryans programmatischem Buch „A Path to Prosperity“ (2010) deutlich spürbar ist. Ryan präsentiert darin eine Alternative zu den nach Meinung der meisten Republikaner gescheiterten keynesianisch inspirierten Konjunkturpaketen der Obama-Regierung. Seinerzeit war er mit seiner Entschlossenheit, eine Gegenphilosophie zu formulieren, ein einsamer Rufer in der Wüste.

Während seine Parteifreunde sich damit begnügten, reflexartig alle Maßnahmen abzulehnen, die Obamas Weißes Haus vorschlug, unterbreitete Ryan den Wählern konkrete Gegenvorschläge für Einsparungen. In der ursprünglichen Fassung stellte Ryan sich auf die Schultern zahlreicher großer westlicher Denker und Wissenschaftler, um vollmundig zu verkünden, Amerika stehe vor der Entscheidung zwischen Individualismus und Kollektivismus, „Recht und Unrecht, Sparen und Ausgeben, Geben oder Nehmen“. Unter seiner Anhängerschaft aus Anwälten, kleinstädtischen Geschäftsleuten und Tea-Party-Neulingen, die nach Lösungen hungerten, stach Ryan mit solchen Proklamationen als intellektueller Riese hervor.

Ryan ist ein ernster, mutiger, tüchtiger und auf tapsige Weise intelligenter Mann, der gerne über Tabellen brütet und die schwülstigen Publikationen von Denkfabriken verdaut. Es fällt schwer, ihn nicht zu mögen. Vergleichsweise jung und tatkräftig, hat er es als erster Angehöriger der einst vielbeschworenen „Generation X“ auf die Bühne der großen Parteipolitik geschafft. Er mag die Grunge-Musik der 1990er Jahre und hört beim morgendlichen Training im Fitneßstudio ausgerechnet den antikapitalistischen Metal-Rap von Rage Against the Machine. Die ehemaligen „Schlaffis“ seiner Generation gründen nun Familien und finden sich plötzlich in einer Welt riesiger Haushaltsdefizite, hoher Arbeitslosigkeit und drohender Einschnitte im sozialen Netz wieder. Gut möglich, daß sie Ryans Forderungen nach rigorosen Haushaltskürzungen eher Vertrauen schenken als den rosaroten Szenarien der Demokraten, die immer noch glauben, der Weg zurück in den Wohlstand lasse sich mit Mehrausgaben erkaufen.

Trotz seines zarten Alters war Ryan schon 2007 der ranghöchste Republikaner im Haushaltsausschuß des Kongresses. 2008 schlug er vor, der Staat solle sich seiner größten Haushaltslasten entledigen und das staatliche Sozialprogramm Medicare sowie das Rentensystem privatisieren und die Sozialausgaben insgesamt drastisch kürzen. Schätzungen zufolge erhält mittlerweile über die Hälfte der Bevölkerung staatliche Leistungen.

Daß wichtige Stimmen in den konservativen Medien Ryans Lösungsvorschläge zuletzt als die einzige realistische Hoffnung auf einen Sieg über Obama angepriesen haben, dürfte Romney in seiner Entscheidung bestärkt haben. Wer allerdings an der Oberfläche seiner Pläne kratzt, merkt bald, daß sie längst nicht so gewagt sind, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Zum einen wäre es politisch vollkommen unrealistisch, Krankenversicherungs- oder Rentenansprüche für die heute über 55jährigen ändern zu wollen. Zum zweiten ist Ryan ein Falke wie sein großes Vorbild Ronald Reagan und würde daher die Verteidigungsausgaben erhöhen wollen. Das Ergebnis wäre, daß die Staatsverschuldung, die bereits jetzt untragbare zwölf Billionen Dollar beträgt, sich unwesentlich langsamer erhöhen würde.

Romney erhofft sich von Ryan einen Popularitätsschub für seinen stagnierenden Wahlkampf. Diese Präsidentschaftswahl wird sich letztlich in der Handvoll Bundesstaaten entscheiden, deren Wählerschaft bislang noch unentschieden ist: Colorado, Florida, Iowa, New Hampshire, Nevada, Ohio, Virginia und Ryans Wisconsin. Mit Ryan an seiner Seite kann Romney die Wahl als eine Entscheidung zwischen dem Status quo – Staatsverschuldung und Rettungspakete – einerseits und Staatsverschlankung und freiem Unternehmertum andererseits darstellen.

Zudem hat Ryan aber auch etwas zu bieten, was der Romney-Kandidatur bislang fehlte: eine persönliche Biographie, die die Wähler anspricht. Romney selbst hat sich in dieser Hinsicht stets bedeckt gehalten. Sein größter Erfolg, die Kapitalgesellschaft Bain Capital mitbegründet und aufgebaut zu haben, mag sein Profil als tüchtiger Macher stärken, der die marode US-Volkswirtschaft retten kann – er erinnert die Wähler aber auch daran, daß er der derzeit so verfemten Finanzelite angehört. Auch über die Rolle, die die mormonische Religion in seinem Leben spielt, sagt er lieber so wenig wie möglich.

Ryans Lebensgeschichte ist dem Durchschnittsamerikaner sehr viel einfacher zu vermitteln: Mit sechzehn verlor er plötzlich den Vater, reifte über Nacht vom jugendlichen Faulpelz zum ehrgeizigen und idealistischen jungen Mann. Diese herzerwärmende Geschichte wird man auf dem bevorstehenden Parteitag in Tampa sicher bis zum Überdruß zu hören bekommen. Aber wenn die Entscheidung für Ryan dazu beiträgt, die wirtschaftliche Realität auf die politische Tagesordnung zu setzen, kann man wenigstens hoffen, daß nebenher auch ein wenig Substanz geboten wird.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.

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