© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/12 24. August 2012

Literaturwissenschaft: Oswald Spenglers Kulturmorphologie
„Strammstehen vor der Zeit“
(wm)

Ausgerechnet mit seiner Zeittheorie gab sich der Geschichtsdenker Oswald Spengler wenig Mühe. Interpreten sind daher heilfroh, wenn sie wenigstens Spenglers starke Anleihen bei dem gleichfalls nicht mit clarté aufwartenden französischen Lebensphilosophen Henri Bergson (1859–1941) identifizieren, der das Rätsel „Zeit“ aber ebensowenig löste wie sein Kollege Edmund Husserl oder dessen Schüler Martin Heidegger. Auch Christof Forderers Essay zur Auffassung von Zeit und Raum in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ (Weimarer Beiträge, 2/2012) bringt wenig Licht in diese „nicht sehr stringente und oft ohne klare begriffliche Unterscheidungen durchgeführte Zeittheorie“ und rekurriert daher rasch auf Einflüsse Bergsons, dessen Lehre er die „Romantisierung der Zeit zu einem bergenden Strom“ verdanke. Eigener Spekulation sei hingegen der von Spengler postulierte Vorrang der lebendigen Zeit vor dem toten Raum entsprungen. Ebenso jene für ihn typische ideologische Aufladung in seiner „Kulturmorphologie“. Mit seiner „organisch“, „weiblich“ begriffenen Zeit, die „hartnäckig eigensinnige“ Kulturräume konstituiert, habe der vor dem „Gerichtetsein der Zeit strammstehende“ Spengler seinen von „Verlorenheitsängsten“ gepeinigten „Abendländern“ ein unwiderstehliches Sinnangebot gemacht. Allerdings um den Preis des politischen Engagements für einen neuen „Cäsarismus“.

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