© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/12 24. August 2012

Der Flaneur
Auf den Spuren des Dichters
Cassian Heidt

Als sich die blauen Weiten vor den Studenten aufbauen, wissen sie, daß sie richtig sind. In dieser Gegend muß der Dichter gelebt haben. Alles andere wäre seiner unwürdig. Im Auto peitscht Industrial aus den Boxen. Die schwarzen Boss-Hemden sind lässig auf drei Fingerbreiten hochgekrempelt und glänzen matt in der Sonne, Ray-Ban-Sonnenbrillen runden die Erscheinung ab.

Vor den Einwohnern dieser Region hat man sie an der Universität gewarnt. Hinterwäldler seien das, wohl auch leicht inzestuös. In der Tat verändert sich das Leben am Fuße dieser Berge. Nach allen Regeln der Kunst frisierte VW Golfs drängeln sich unerbittlich auf den kurvigen Landstraßen vor, schnell ziehen sie vorbei. Am Straßenrand wird schon zum zehnten Mal die große Ü40-Party am Wochenende beworben. Wem würden hier in diesem Alter nicht die Nerven durchgehen? Wirre Umleitungsschilder locken systematisch von der kleinen Bundesstraße in die ländliche Irre.

Endlich erreichen sie leicht verschwitzt das Dörfchen des Dichters, sein Haus müßte noch geöffnet haben. Aber nichts dergleichen ist ausgeschildert. Nicht mal zu den einfachsten Tourismusformen ist man hier fähig. Nach zwei erfolglosen Dorfdurchquerungen fragen sie schließlich den ölbeschmierten Bauern in der Latzhose, wo denn der Dichter genau wohne. Ob er unter der Latzhose etwas trägt, bleibt unklar. Der Wilde kratzt sich am Kopf: „Ernst Werner, ha wer isch denn des?“ Die Studenten seufzen, woher soll er es denn auch wissen. „Nicht Werner, Ernst Jünger. Jünger.“ – „Ah, ihr meinet den Stahlgewitter-Jünger. Ja, des isch des andre Wilflingen. Des isch 70 Kilometer do hanna lang.“ Druckabfall.

Als die Studenten heimfahren, läuft kein Industrial mehr. Die Dämmerung wirft lange Schatten über ihre Gesichter, die Sonnenbrillen brauchen sie nicht mehr. Nur der frisierte Golf dröhnt wieder an ihnen vorbei. Es ist seine Straße.

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