© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/12 31. August 2012

Der deutsche Klang
Ein preußischer Orpheus: Christian Thielemann tritt als Chefdirigent der Staatskapelle Dresden an
Sebastian Hennig

Viele gute Dirigenten entsprechen in ihrem äußeren Erscheinungsbild den Erwartungen: Sie erscheinen dem Publikum als Sachwalter der Musik, die mit Befugnissen über die Orchester ausgestattet sind. Und es gibt manische Vertreter des Berufs, die ähneln nur sich selbst. Die Bedingungslosigkeit ihres Tuns sät Schrecken und Bewunderung. Das galt für Wilhelm Furtwängler, Carlos Kleiber, Sergiu Celibidache und
Jewgeni Mrawinski. Heute ist nur um den 53jährigen Christian Thielemann eine solche Aura.

Für Musikliebhaber mit digital durchgeputzten Gehörgängen wirkt er als Nebelgranate. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Seinerseits stört ihn am heutigen Musizieren der „absolut helle, überbrillante Klang“. Manche sind genervt, wie scheinbar unmusikantisch-verspannt er dirigiert, dabei mit den Knien wedelt und den Lackschuhen wippt, Schnuten zieht und die Augen rollt. In Thielemanns unübersehbarer Person ist kein Orchesterbändiger zugange, kein Dompteur, der eine vielköpfige Bestie zügelt. Hier hat eine Kapelle ihren Meister gefunden: Wenn über künstlerische Ziele ein grundsätzliches Einverständnis herrscht, dann genügt die mahnende Präsenz.

Der studierte Bratscher ist durch Selbstermächtigung ans Pult gelangt, so wie der gelernte Freskenmaler Michelangelo sich die Freiheit nahm als Steinbildhauer zu wirken. Trübe würde es um uns bestellt sein, wenn es solche Seiteneinsteiger nicht gäbe. Denn die Musen setzen sich in keine Jury und sind nicht demokratisch. Oft sind es Autokraten, die irreguläre Befähigungen zu schätzen wissen. Herbert von Karajan beispielsweise, der sich von Christian Thielemann in Salzburg assistieren ließ. Dort werden nun die Osterfestspiele durch die Dresdner bestritten.

1988 gab der jüngste Generalmusikdirektor Deutschlands mit Hans Pfitzners musikalischer Legende „Palestrina“ seinen Einstand an der Oper Nürnberg. Das war keine Provokation, sondern Ausdruck unbefangener Liebe zur Schönheit dieses Werkes, dem er später zur hochgelobten Aufführung in der königlichen Oper zu Covent Garden und in New York verhalf. Er wollte sich die Erfahrung dieser herrlichen Musik „nicht durch die Politik kaputtmachen lassen“ und fragte zurück: „Was hat cis-Moll mit Faschismus zu tun?“ Im englischsprachigen Raum kam man ihm mit der Fairneß entgegen, die er in Deutschland vermißte.

Inzwischen ist seine Stellung so gefestigt, daß er der eigentlichen Hauptgefährdung ins Auge blickt: von der dämonischen Kraft der Musik selbst zerrieben zu werden. Vor genau einem Jahr hat er mit Pfitzners Klavierkonzert und dem amerikanischen Pianisten Tzimon Barto, die zurückliegende Konzertsaison der Staatskapelle eingeleitet. Nachdem er sich von München abkehrte, weil er keine fremdberufenen Gastdirigenten als „Orchesterverderber“ (Celibidache) hinnehmen wollte, befindet er sich jetzt wieder am rechten Platz: vor einem großen Orchester, das von der klassischen und romantischen Konzertliteratur ganz imprägniert ist und zugleich die Operndramatik beherrscht. In Dresden fungiert er mit der beginnenden Spielzeit als Chefdirigent, nicht als Generalmusikdirektor. Zum Verständnis des Amtes ist sein Bonmot überliefert: „Wo Chef draufsteht, ist auch Chef drin.“

Es gibt keine Spur von sächsischer Empfindlichkeit gegen den Berliner, der sich in seinem Arbeitszimmer den Blicken des großen Preußenkönigs stellt: „Er fasziniert mich wegen seiner Knallhärte, seines Pflichtbewußtseins und zugleich seiner Sensibilität.“ Thielemann ist gleichermaßen im Kuratorium der Jubiläumsausstellung zu Friedrich dem Großen in Potsdam zu finden, wie dem der Schostakowitsch-Tage, die seit drei Jahren im kleinen Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz stattfinden. Unter den Dingen, die er sich gern noch erschließen möchte, nennt er den späten Verdi und Dmitri Schostakowitsch. „Ich behaupte: Die Musik als solche, ohne Worte, kann nichts Politisches ausdrücken. Ich hätte sogar nicht einmal ein Problem, eine Kantate für Stalin aufzuführen, wenn sie gute Musik enthielte!“

Er ist ein langsamer Arbeiter, kein Jetset-Dirigent, der sich mit dem Taktstock durch die Literatur wühlt. Die angebliche Beschränkung des Repertoires zeugt nicht von Bequemlichkeit, sondern von Gründlichkeit. Wenn er zu den lebendigen Gründen herabsteigt, zur Radikalität des Klangs, geschieht das nicht im Sinne pedantischer Reinigung, sondern zur Wiederherstellung der ursprünglichen Fülle. In der letzten Adventszeit konfrontierte er die sächsisch-protestantischen Kantoren-Gemüter mit einem ungewohnt prunkvollen Weihnachts-oratorium in der Dresdner Frauenkirche. Transparenz und Rausch zusammenzubringen ist seine erklärte Absicht. Zu Richard Wagners Geburtstag wird im Mai in der Frauenkirche mit riesigem Choraufgebot dessen „Liebesmahl der Apostel“ erklingen, samt den mystischen Stimmen aus dem Kuppelrund.

Die Staatskapelle, die sich in der Vergangenheit sehr störrisch zeigen konnte gegen ihnen vorgesetzte Dirigenten, scheint ihrem Wunsch-Bräutigam Christian Thielemann ganz ergeben zu sein. Man kennt sich schon länger: Dreißig Musiker des Dresdner Orchesters wirkten mit ihm im mystischen Abgrund des Bayreuther Festspielhauses. In Dresden nun wird Thielemann in seiner Antrittssaison insgesamt fünfzig Konzerte der Staatskapelle leiten (siehe Infokasten auf dieser Seite).

Das erste Konzert im neuen Amt am 1. September gilt noch einmal Anton Bruckner. Thielemann erlebt eine Synästhesie zwischen der Sinfonik des oberösterreichischen Meisters und den zugleich stillen und gewaltigen Zügen, der von ihm so geliebten und immer wieder besuchten Landschaft Ostdeutschlands. „Ostpreußen ist wie diese langen Brucknerschen Generalpausen, in denen nichts passiert und eigentlich alles passiert.“

In diesen Gefilden der uralten Eichenalleen und der Seen würde er gerne leben. Klar und doch geheimnisvoll, bergen sie die landschaftliche Entsprechung zu dem, was er als den deutschen Klang empfindet, jene Art des Musizierens, die Wilhelm Furtwängler, Hans Knappertsbusch und Bruno Walter auszeichnete: „Deutscher Klang ist dunkel mit Leichtigkeit.“ Es gilt der Überwältigung und Präzision, denn: „Der Wagnersche Dunst entsteht nicht, indem wir unten im Graben dunstig sind, der entsteht durch Deutlichkeit“, sagte er kürzlich der Zeit.

Dabei erlebt Thielemann den Umgang vor allem mit Wagners Musik, und da am meisten mit dem „Tristan“, als eine Gefährdung, der nur durch kluge Dosierung und gelegentliche Ablenkung zu entkommen ist. An Dresden berührt ihn ein in der Verwüstung gewachsenes Selbstbewußtsein, die lokalpatriotische Ungleichgültigkeit gegenüber dem Woher: „Was wir brauchen, ist ein neuer, offener, liberaler Konservatismus. Das lehrt uns Dresden.“

Für die Dresdner Staatskapelle gab es in den letzten Jahrzehnten immer wieder gute Zeiten. Aber Epoche, wie sie sich mit den Namen der Kapellmeister Ernst Edler von Schuch, Fritz Busch oder Karl Böhm verknüpft, wurde nicht gemacht. Das ändert sich nun!

 

Thielemann in Dresden: Wagner, Brahms, Henze

Die erste Spielzeit Christian Thielemanns mit der Sächsischen Staatskapelle in Dresden ist geprägt vom Wagner-Jubiläum, einem Brahms-Zyklus und den Werken des diesjährigen Capell-Compositeurs Hans Werner Henze.

Zum traditionellen Gedenken an die Zerstörung der Stadt am 13./14. Februar 1945 bei Luftangriffen alliierter Bomber wird Mozarts Requiem erklingen. Mit zwei Sonderkonzerten am 18. und 21. Mai 2013 gratulieren Thielemann und die Staatskapelle Richard Wagner zum 200. Geburtstag. In der Frauenkirche dirigiert Thielemann unter anderem „Das Liebesmahl der Apostel“, welches Wagner als Königlich Sächsischer Hofkapellmeister 1843 für diesen Kirchenbau komponiert hat, sowie in der Semperoper Auszüge aus den Wagner-Opern „Der Fliegende Holländer“, „Lohengrin“, „Rienzi“ und „Tannhäuser“ (mit dem Tenor Jonas Kaufmann). Von Henze dirigiert Thielemann zwei Werke, „Sebastian im Traum“ und die Uraufführung von „Isoldes Tod“.

Das erste Konzert im neuen Amt am kommenden Samstag (1. September) gilt noch einmal Anton Bruckner. Dessen 8. Sinfonie war 2009 die Verlobungsmusik der Staatskapelle mit ihrem Meister. Zum Vollzug der Ehe ertönt nun die Siebte. Zuvor erklingen Lieder von Hugo Wolf, interpretiert von der US-amerikanischen Star-Sopranistin Renée Fleming.

www.staatskapelle-dresden.de

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