© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/12 31. August 2012

CD: Titel
Momente des Glücks
Jens Knorr

Mit 17 hat man noch Träume, da sind die Wege noch offen und fragt man nicht, was man darf und kann. Da geht einem das Herz über, läuft die Tinte aufs Papier, zu Wörtern oder Noten, gleichviel. Drei Streichquartette von Siebzehnjährigen führt das aus Frankreich stammende Quatuor Modigliani – Philippe Bernhard und Loïc Rio, Violine, Laurent Marfaing, Viola, François Kieffer, Violoncello – zusammen, alle drei keine ausgereiften Exemplare ihrer Gattung, aber exemplarisch in ahnendem Erfassen dessen, was diese bürgerlichste aller Musikgattungen zu leisten imstande ist und was zumindest zwei von den drei Siebzehnjährigen in ihr noch leisten werden. Die Modiglianis gaben ihrer wunderhellen Interpretation den Titel „Intuition“.

Mozart komponierte seine sechs „Mailänder Quartette“ im März 1773, noch vor der Heimreise von seiner dritten Italienreise. Eins von denen ist das Streichquartett Nr. 6 in B-Dur KV 159. Schubert komponierte sein Streichquartett in C-Dur D 46 in weniger als einer Woche des März 1813 wie alle seine frühen Streichquartette für die wochenendliche Hausmusik, bei der sein Vater das Violoncello, er selbst die Bratsche, seine Brüder die Violinen spielten.

Juan Crisóstomo de Arriaga, der erst Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckte „spanische Mozart“, komponierte sein drittes Streichquartett 1824. Die Intuition der vier Modiglianis konvergiert mit der ihrer drei Komponisten, die ziemlich unbekümmert gegen die musikalische Form zu Werke gehen, lange vor aller Freiheit von ihr und lange vor allem Wollen, zu zerbrechen, die selbst noch im Werden ist.

Um Intuitives herauszustreichen, bedarf es durcharbeitender Ratio. Selbstverständlich heben alle drei Jugendwerke, insbesondere das von de Arriaga, auch auf aparte Wirkungen ab und kommen nicht ohne Imponiergesten aus. Das Spiel der Modiglianis – und sie selbst auf dem Coverfoto übrigens auch – hebt über den Gleichklang des Empfindens gleichaltriger Jugendlicher hinaus auf den Gleichklang von Zeit- und Weltempfinden über nationale und soziale Grenzen hinweg ab.

Dabei bringen sie Unerhörtes so herüber, als verstünde es sich von selbst: Mozarts zweiter, der dramatische, der Sonatenhauptsatz, in dem seine Musik sprechen lernt. Oder Schuberts unheimlich ahnungsvolles Beginnen …

Junge Leute sehen die Welt mit eigenen Augen an. Mit 17 hat das gealterte Wunderkind schon knapp die Hälfte seines Lebens gelebt, der eben dem kaiserlichen Konvikt Entkommene bereits mehr als die Hälfte. Noch ganze zwei Jahre hat der Adelssproß zu leben, er wird zehn Tage vor seinem 20. Geburtstag sterben, vermutlich an Tuberkulose.

Was wissen die Quartette der drei davon? Die seien, schreibt Jean-Michel Molkhou, „pure Momente des Glücks, die wiederzuentdecken sind“. Der Autor des Buchs „Die großen Geiger des 20. Jahrhunderts“ hat die Werkeinführungen für das Beiheft geschrieben, deren deutsche Übersetzung auch dieses Mal dringend überarbeitungsbedürftig ist.

Die Modiglianis spielen das „kleine“ Repertoire ganz groß. Daß mit 17 schon mancher der Träume zerrann, daß da schon ein Singen von Liebe und Schmerz ist – die Modiglianis geben auch davon eine Ahnung.

Quatuor Modigliani: Intuition. Mirare (MIR 168) , 2012 www.mirare.fr

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