© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

Pankraz,
G. K. Chesterton und die Opportunisten

Aus der SPD kommt im Zusammenhang mit der Debatte um die sogenannte Euro-Rettung ein Giftpfeil gegen die CDU-Kanzlerin Merkel: Sie sei „keine Pragmatikerin“, hört man immer wieder, „sondern eine Opportunistin“. Was ist damit gemeint? Wo ist der Unterschied? Sind Pragmatismus und Opportunismus nicht dasselbe – Anpassung an die jeweiligen „Gegebenheiten“, schlaues Abwarten, wie der Hase läuft, spätes Aufspringen auf den schon laufenden Zug und dann so tun, als habe man höchstselbst diesen Zug in Bewegung gesetzt?

Gewiß, der Pragmatismus genießt ein weit höheres Ansehen als der Opportunismus; dieser besitzt, genau betrachtet, überhaupt kein Ansehen. Er ist ein reines Schimpfwort. Opportunisten gelten überall als verächtliche Figuren, die nur an sich selber denken und immer nur auf eine „günstige Gelegenheit“ warten, um ihren Reibach zu machen. Ob eine Sache gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, kümmert sie dabei nicht im geringsten.

Hinzu kommt die Unverfrorenheit, mit der sich opportunistische Politiker fremde Federn an den Hut stecken. „Opportunismus ist die Kunst, mit dem Winde zu segeln, den andere machen“, lautet ein italienisches Sprichwort; es trifft ins Schwarze, wenn auch das Wort „Kunst“ in diesem Zusammenhang etwas übertrieben erscheint. Opportunisten sind keine Künstler, sondern banale Abschreiber, wie sie bei jeder Klassenarbeit vorkommen. Oft sind es auch gebrannte Kinder, die sich eine eigene Strategie gar nicht mehr zutrauen. „Ein Politiker, der sich vom Opportunismus leiten läßt“, konstatierte einst der treffliche G. K. Chesterton, „ist wie ein Mensch, der kein Billard mehr spielt, weil er beim Billard verloren hat, oder der mit Golfspielen aufhört, weil er beim Golf geschlagen wurde.“

Der Pragmatismus hingegen ist gesalbt von hochgestochenen, meist angelsächsischen Theorien (Charles S. Peirce, William James, John Dewey, George Herbert Mead), die eine angeblich völlig neuartige Weltsicht offerieren. „Pragma“ heißt „Handlung“, alles menschliche Bemühen ist in der Sicht von Pierce & Co. Handlung, praktisches, „lebensweltliches“ Handeln, es gibt ihrer Meinung nach keine Wahrheit außerhalb des praktischen Handelns. Wahrheit ist lediglich das, was einer jeweiligen Handlung als momentanes Ziel vor Augen steht, sie kann sich gleichsam über Nacht vollständig ändern.

In der Politik hat sich der Pragmatismus in der jüngeren Vergangenheit zweifellos günstig ausgewirkt. Er bewährte sich als bitter notwendiges Antidot gegen die zeitweilige Übermacht der „Ideologien“, jener am Schreibtisch ausgedachten Denksysteme (siehe Kommunismus), welche alles Geschehen auf einige wenige Hauptgrundsätze zurückführten, diese mit diktatorischer Gewalt in der Wirklichkeit durchsetzen wollten und im Endeffekt die Welt regelrecht verheerten und in unsägliche Katastrophen stürzten.

Erklärte pragmatische Politik setzte stattdessen ganz überwiegend auf maßvolle Zielvorgaben und liberales Management. Das ändert freilich nichts an der großen Fragwürdigkeit und Unzulänglichkeit von Politikern, die sich stolz als „Pragmatiker“ bezeichnen. Es sind nämlich keine wirklich Handelnden mit halbwegs originellen Zielvorgaben, sondern – bestenfalls – bloße Reparaturkolonnen. Schon Schopenhauer höhnte: „Pragmatismus für sich genommen ist reine Flickschusterei.“ Er hätte auch sagen können: trostloses Vorsichhinwursteln von einer Kalamität zur anderen, wo immer nur Löcher gestopft werden.

Spätere Kritiker, Max Horkheimer und Theodor Adorno zum Beispiel, fanden noch sehr viel schärfere Töne gegen den Pragmatismus und die sich daran orientierende Politik. Rein zweckrationales Handeln, das seine Zwecke nicht ordentlich hinterfrage, so schrieben sie in direkter Polemik gegen William James und John Dewey, führe geradenwegs in eine brutale Herrschaft über die Natur und über andere Menschen, zu einem Zwangssystem, mit dem verglichen alle früheren Herrschaften das reinste Reich der Freiheit gewesen seien.

Wenn sich heute in der Bundesrepublik politische Parteien gegenseitig mangelnden Pragmatismus vorwerfen, so ist das in jedem Fall ein höchst zweischneidiges Schwert, besonders in der Debatte um die Euro-Rettung. Dieses Projekt hat ja längst jeden pragmatischen Aspekt verloren. Es ist eine Politik gegen jede Erfahrung, sie wurde von der lebensweltlichen Praxis vollständig widerlegt und hat Europa in die schwerste Krise seiner Geschichte geführt. Alle aufgespannten Rettungsschirme haben die Krise immer nur vertieft und werden sie weiter vertiefen.

Kein Politiker dürfte es im Grunde wagen, die gegenwärtige Euro-Politik als pragmatisch zu feiern. Sie ist das genaue Gegenteil davon, dient ausschließlich der Aufrechterhaltung einer bestimmten Ideologie und hat ihre ofizielle Rhetorik voll darauf ausgerichtet. Es herrschen faules Utopiegeschwätz und blindwütige Phrasendrescherei, was an die schlimmsten Zeiten der DDR-Publizistik erinnert. „Den Sozialismus in seinem Lauf / halten weder Ochs noch Esel auf! Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ Der Medienkonsument wendet sich mit Grausen.

Was aber das Verhältnis von Pragmatismus und Opportunismus in der aktuellen deutschen Politik betrifft, so könnte man es auf folgenden Nenner bringen: Die an der Euro-Rettung beteiligten Akteure haben sich durch die Bank aus bekennenden Pragmatikern in eifrige Opportunisten verwandelt, und zwar keineswegs nur auf seiten der CDU. Alle wissen, daß ihre Politik ins Unheil führt, doch jeder denkt nur an sich und wie er seine ganz eigenen Schäfchen ins trockene bringt.

Opportunismus, so das von Google herausgegebene deutsche Wörterbuch „The free Dictionary of German Language“, ist die Einstellung, bei der man seine Meinung sehr schnell mit den einzelnen Situationen und der Meinung anderer ändert, um Vorteile zu haben. Ein Plakat mit dieser Definition gehört jetzt eindeutig in jedes Parteibüro.Wer spricht da noch von Pragmatismus?

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