© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

Neuer Blick auf einen Klassiker
Johann Wolfgang von Goethe: Im Weimarer Nationalmuseum ist die Dauerausstellung „Lebensfluten – Tatensturm“ eröffnet worden
Jörg Bernhard Bilke

Wenn man, aus der Lichtfülle eines Spätsommersonntags kommend, die abgedunkelten Räume im ersten und zweiten Stock des einstigen Wohnhauses und heutigen Goethe-Nationalmuseums in Weimar betreten hat, brauchen die Augen Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, die nötig ist, um die zwei Jahrhunderte alten Exponate der neuen Goethe-Dauerausstellung nicht zu beschädigen.

Eingangs bekommt man eine Übersicht der Jahre 1749 bis 1832 geboten, in drei aufeinander bezogene Zeitstränge gegliedert: Zeitgeschichte, Lebensdaten, Werke. Schon hier merkt man, daß selbst der mit den Eckdaten vertraute Literaturwissenschaftler durchaus noch einiges in diesem prallen Lebenslauf des Johann Wolfgang von Goethe zu entdecken hat.

Dabei wäre, um es salopp auszudrücken, die deutsche Klassik fast ausgefallen! In Richard Friedenthals Goethe-Buch (1963) kann man nachlesen, wie die berittenen Sendboten des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach die Postkutsche des begüterten jungen Rechtsanwalts, der schon auf dem Weg nach Italien war, bei Heidelberg einholten und ihn nach Weimar brachten, wo er Staatsbeamter und Minister wurde. Zwei Jahre nach der ersten Reise über die Alpen 1786/88, die er Jahrzehnte später in seinem Buch „Italienische Reise“ (1816/17) beschreiben sollte, fuhr er 1790 noch einmal, unfreiwillig, nach Italien, um die Herzoginmutter Anna Amalia (1739–1807) abzuholen.

Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, auch in den thüringischen Kleinstaaten, wurde im 18./19. Jahrhundert noch überall die Todesstrafe vollstreckt. So mußte auch Goethe am 4. November 1783 im „Geheimen Consilium“ sein Votum abgeben, daß es „räthlicher sein mögte, die Todesstrafe beyzubehalten“. Worauf schon am 28. November vor den Toren der Stadt die junge Anna Catharina Höhn „wegen Kindsmords“ geköpft wurde.

Daß Goethe leidenschaftlich gern reiste und oft vor langweiligen Staatsgeschäften und schlimmen Hofintrigen in den Thüringer Wald oder die böhmischen Bäder floh, ist bekannt. Allein Marienbad in Böhmen hat er, neben Franzensbad, Karlsbad und Teplitz, zwischen 1785 und 1823 mehrmals besucht und dort 1821, im Alter von 72 Jahren, die 17jährige Ulrike von Levetzow (1804–1899) aus Mecklenburg kennen- und liebengelernt. Zwei Jahre umwarb er sie heftig, um dann, zum Gespött seiner Umgebung, seinen Freund, den Weimarer Großherzog, als Hochzeitsbitter zu den Eltern zu schicken, der aber abgewiesen wurde. Die „Marienbader Elegie“, die Goethe, tief enttäuscht, auf der Rückreise nach Weimar schrieb, wurde ein weltliterarisches Ereignis.

Zum Thema „Goethe auf Reisen“ findet man auch im ersten Stock den Reisemantel des Dichters und die Landkarte „Wirkungsorte und Reiseziele“. Diese Landkarte freilich befremdet den Betrachter, weil sie unhistorisch die heutigen Staaten zeigt und nicht Österreich-Ungarn und Preußen: Goethe ist eben nicht mit seinem Herzog im Spätsommer 1790 nach Polen gefahren, das es nach der dritten polnischen Teilung überhaupt nicht mehr gab, sondern ins preußische Schlesien, worüber der aus Kreuzburg/Oberschlesien stammende Schriftsteller Heinz Piontek (1925–2003) den Roman „Goethe unterwegs in Schlesien“ (1993) geschrieben hat. Und er hat auch nicht in Marianske Lazne eine Elegie geschrieben, sondern im böhmischen Badeort Marienbad, der im Kaiserreich der Habsburger lag.

Die neue Weimarer Dauerausstellung unter dem Titel „Lebensfluten – Tatensturm“, eröffnet zu Goethes Geburtstag am 28. August und aufgegliedert in sieben Abteilungen, bietet dem Besucher neue Aspekte, auch dann, wenn er gelegentlich „Befremden“ (Jens Bisky) verspürt. Die sieben Abteilungen „Genie“, „Gewalt“, „Welt“, „Liebe“, „Kunst“, „Natur“ und „Erinnerung“ präsentieren das unerschöpfliche Material in neuer Anordnung, zudem ist die Goethe-Forschung seit 1989/90 vorangeschritten. Und der vorzügliche Katalog mit vertiefenden Aufsätzen kostet keine 15 Euro.

Mancher Betrachter möchte seine Kenntnisse einzelner Lebensabschnitte vertiefen, beispielsweise zur Freundschaft zwischen Goethe und Schiller, die nur elf Jahre währte (1794–1805), oder zu den letzten Lebensjahren, als der Altphilologe Johann Peter Eckermann aus Winsen an der Luhe sein Sekretär war, oder zur letzten Reise 1831, die nach Ilmenau führte, worüber Sigrid Damm das wunderbare Buch „Goethes letzte Reise“ (2010) geschrieben hat.

Als Johann Wolfgang von Goethe am 22. März 1832 in Weimar starb, war die erste Eisenbahnstrecke in England, zwischen Stockton und Darlington, schon sieben Jahre in Betrieb, die in Deutschland zwischen Nürnberg und Fürth sollte 1835 folgen. Mit seinem Tod war ein Zeitalter abgeschlossen, die „Goethe-Zeit“. So hat sie der Leipziger Germanist Hermann August Korff, der Einfachheit halber, in seinem vierbändigen Werk „Geist der Goethezeit“ (1923/53) genannt.

Die Ausstellung ist im Weimarer Goethe-Nationalmuseum, Frauenplan 1, täglich außer montags von 9 bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt (Ausstellung und Wohnhaus) kostet 10,50 Euro, ermäßigt 8,50 Euro. Für Kinder und Jugendliche bis zu 16 Jahren ist der Eintritt frei. Telefon: 0 36 43 / 5 45-400

Das Begleitbuch mit 288 Seiten und 162 Abbildungen kostet 14,90 Euro.

www.klassik-stiftung.de

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