© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

Asymmetrie durch die rosarote Brille
Ein Sammelband beleuchtet die deutsch-polnischen Beziehungen zwischen 1991 und heute als „unglaubliche Erfolgsgeschichte“
Jürgen W. Schmidt

Einer Festschrift gleicht der vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt und dem Breslauer Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien herausgegebene Sammelband, der auf den Referaten einer Tagung in Breslau vom 21. Oktober 2010 beruht. Doch wie normal sind die Beziehungen zwischen zwei Staaten, wenn der neu ernannte Außenminister bei seinem Antrittsbesuch in der Hauptstadt des Nachbarstaats eine Abgeordnete der eigenen Regierungskoalition (Erika Steinbach) als Gastgeschenk zum Opfer darbringt (Westerwelle 2009) und es der Bundespräsident für notwendig erachtet, bei seinem Antrittsbesuch das Gastland Polen an die „große Brutalität“ der Deutschen zu erinnern (Gauck 2012)?

Am 17. Juni 1991 wurde zwischen Deutschland und Polen der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet, dem am 14. November 1990 in Warschau die Unterzeichnung des Vertrags über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vorangegangen war. Das vereinte Deutschland war danach peinlichst bemüht, dem neuen Partner Polen auf allen Gebieten entgegenzukommen und ihm als Fürsprecher sowohl den Weg in die Nato (1999) wie in die EU (2004) zu ebnen. Diese Hilfe wurde in Polen gern akzeptiert, doch wie Christoph Pallaske in seinem Beitrag über die Migrationsströme verschmitzt bemerkt, sind die deutsch-polnischen Beziehungen leider „oft durch Asymmetrie“ gekennzeichnet.

Die Menschenströme fließen von Polen nach Deutschland, während an anderen Stellen des Sammelbandes deutlich hervorgeht, daß sich die Geldströme genau umgekehrt verhalten. Das „Weimarer Dreieck“ zwischen Frankreich, Deutschland und Polen ist, nicht ohne Schuld Polens, zerbrochen. Polen versuchte nach dem amerikanischen Einmarsch in den Irak 2003, sich unter Berufung auf eine angeblich gemeinsame „amerikanisch-polnische Geschichte“ zum amerikanischen Musterschüler zu erklären, während die bezüglich der Bush-Politik wesentliche skeptischeren Partner Frankreich und Deutschland dem „alten Europa“ zugeordnet wurden. Unangenehm fielen nicht nur in Frankreich und Deutschland, sondern auch in anderen EU-Staaten diese polnischen Bestrebungen auf, während der „EU-Reformen“ möglichst große Vorteile auf nationaler Ebene für sich herauszuschlagen, wo es doch um das zu schaffende „gemeinsame Europa“ ging. Aus dieser Zeit sind polnische Schlachtrufe wie „Nizza oder der Tod“ des späteren größten Nettogeldempfängerstaates der ganzen Europäischen Union noch gut in Erinnerung.

Zu einer Beunruhigung der damaligen deutsch-polnischen Beziehungen trug zusätzlich der „Kartoffel“-Artikel in der taz vom 26. Juni 2006 bei, eine mißglückte Satire über Polens damaligen Präsidenten Lech Kaczyński. In Polen benützte man dagegen jedes öffentliche Auftreten der CDU-Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach, um dieses bewußt mißzuverstehen. Als Steinbach beispielsweise „ein der Wahrheit entsprechendes Bild der deutsch-polnischen Nachkriegsgeschichte“ verlangte, in welchem die „Vertreibung der Deutschen nicht mehr zu einer unvermeidlichen Notwendigkeit verfälscht wird“, verunglimpfte man diesen Appell als „opportunistisch, arrogant, zynisch, inkompetent, demagogisch und unverantwortlich“. Kein Wunder, daß im gesamten Sammelband, an dem 12 deutsche und französische sowie 16 polnische Beiträger mitwirkten, nur über „Aussiedlung“, nie aber über „Vertreibung“ der Deutschen gesprochen wird.

Mitherausgeber Dieter Bingen singt in seinem Beitrag über „erwachsene Partnerschaft“ Elogen über die „unglaubliche Erfolgsgeschichte“ der deutsch-polnischen Beziehungen, welche zu einem „geradezu märchenhaften politischen Elysium“ führten. Das kann man natürlich so sehen, aber dann muß man eine rosarote Brille tragen und alles Störende ausklammern. Über die deutschfeindlichen Ausschreitungen vom 31. Dezember 2010 auf der Görlitzer Altstadtbrücke fällt kein Wort. Auch bei der Klärung des weiteren Umgangs mit der „Berlinka“ (aus Berlin ausgelagerten Archiv- und Kulturgütern, die sich seit 1945 in polnischen Händen befinden) ist man seit 1991 keinen Schritt weitergekommen.

Gewiß waren die deutsch-polnischen Beziehungen seit 1945 noch nie so gut wie heute, doch weisen sie andererseits beträchtliche Baustellen wie die wachsende Grenzkriminalität und verschleppte Probleme auf, die in Polen der Lösung harren. Wenigstens im Kleingedruckten wurde im Sammelband auf einige dieser Probleme verwiesen.

Dieter Bingen, Krzysztof Ruchniewiecz, u.a. (Hrsg.): Erwachsene Nachbarschaft. Die deutsch-polnischen Beziehungen 1991 bis 2011. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2011, gebunden, 459 Seiten, 38 Euro

Foto: Feindbild Steinbach in der polnischen Presse, „Wprost“, September 2003: Peinlich bemüht, Warschau allseits entgegenzukommen

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