© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/12 21. September 2012

Im Schatten der Geheimdienste
„Zwickauer Terrorzelle“: Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn gibt den Ermittlern bis heute Rätsel auf
Marcus Schmidt

Die an Überraschungen nicht arme Geschichte der Aufarbeitung der Mordserie an neun Ausländern und einer Polizistin, die dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) zugerechnet wird, ist seit der vergangenen Woche um einige Skurrilitäten reicher.

Inmitten der neuerlichen Aufregung um die Rolle der Geheimdienste und deren Umgang mit den Akten platze die Nachricht, daß 2001 ein Fahndungsfoto von Uwe Mundlos in einer Folge des ARD-Fernsehkrimis „Tatort“ auftauchte. Dem wollte das ZDF offenbar nicht nachstehen und bestätigte kurz darauf, daß 2004 in einer Folge der „Küstenwache“ nicht nur das Foto von Mundlos, sondern auch das Fahndungsbild von Uwe Böhnhardt gezeigt wurde. In beiden Fällen hatten sich offenbar die Produktionsfirmen auf der Internetseite des Bundeskriminalamtes (BKA) bedient, das zwischen 1998 und 2003 mit den Bildern nach den untergetauchten Rechtsextremisten gesucht hatte.

Die Posse um die „Fernsehauftritte“ von Mundlos und Bönhardt zeigt einmal mehr, daß im Fall der „Zwickauer Terrorzelle“ mittlerweile alles möglich erscheint und nichts mehr ausgeschlossen werden kann. Davon können auch die Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages ein Lied singen. Das Nervenkostüm der Abgeordneten um den Ausschußvorsitzenden Sebastian Edathy (SPD) wird von Sitzungswoche zu Sitzungswoche dünner. Mittlerweile habe man sich daran gewöhnt, morgens „einen Schlag in die Magengrube“ zu bekommen, sagte der Obmann der Grünen im Ausschuß, Wolfgang Wieland, am Donnerstag vergangener Woche. Zuvor hatten die Abgeordneten erfahren, daß ihnen der Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) wichtige Akten nicht rechtzeitig übermittelt hatte. Der Inhalt der Dokumente ist brisant. Aus ihnen geht hervor, daß das Landeskriminalamt bis 2011 einen V-Mann aus dem Umfeld des NSU geführt hat.

Am Dienstag mußte der schwer unter Druck stehende Henkel dem Innenausschuß des Abgeordnetenhauses Rede und Antwort stehen. Er gestand Fehler ein und bedauerte „zutiefst, daß bei den Mitgliedern im NSU-Untersuchungsausschuß der Eindruck entstanden ist, das Land Berlin würde ihnen wichtige Erkenntnisse vorenthalten“. Sein Amtsvorgänger, der langjährige Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD), hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Konsequenzen aus der Tatsache gezogen, daß der Berliner Polizei während seiner Amtszeit offenbar Hinweise des V-Manns Thomas S. vorgelegen haben, die möglicherweise auf die Spur der untergetauchten Rechtsextremisten geführt hätten. Körting kündigte am Montag seinen Rückzug aus der von der Innenministerkonferenz ins Leben gerufenen Bund-Länder-Kommission „Rechtsterrorismus“ an, die ebenfalls Versäumnisse bei der Aufklärung der NSU-Mordserie untersuchen soll.

Die Berliner Vorgänge dürfte Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) mit einer gewissen Erleichterung beobachtet haben. Denn zuvor war er selbst wegen einer Aktenaffäre im Zusammenhang mit der Mordserie unter Druck geraten. Ihm war vorgeworfen worden, den Untersuchungsausschuß nicht rechtzeitig darüber informiert zu haben, daß der Militärische Abschirmdienst (MAD) 1995 versucht hatte, den damaligen Wehrdienstleistenden Mundlos als Informanten anzuwerben. Hinzu kommt, daß die betreffenden MAD-Akten über Mundlos aus Gründen des Datenschutzes bereits vor einigen Jahren wieder gelöscht wurden. Auch wenn die Informationen bei anderen Behörden noch vorhanden waren, bescherte die Diskussion dem MAD erneut eine Debatte über seine Existenzberechtigung. Schon seit Jahren fordert die FDP und allen voran Justizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger, den Dienst aufzulösen und die Aufgaben auf das Bundesamt für Verfassungsschutz und den Bundesnachrichtendienst zu verteilen. Ein Vorhaben, dem ihr Kabinettskollege de Maizière auch jetzt energisch widersprochen hat.

Angesichts dieser ständigen Aufregung um geschredderte oder zu spät weitergeleitete Akten gerät die eigentliche Aufklärung der Mordserie mehr und mehr in den Hintergrund. Dabei sind auch hier immer noch zahlreiche Fragen offen. Dies gilt in besonderer Weise für den Mord an der 22 Jahre alten Polizistin Michèle Kiesewetter am 25. April 2007 in Heilbronn, den rätselhaftesten der dem NSU zugerechneten zehn Morde.

Die Tat, die in der vergangenen Woche auf der Tagesordnung des NSU-Untersuchungsausschusses stand, fällt aus mehreren Gründen völlig aus dem Rahmen: Anders als bei den Morden an neun türkisch- und griechischstämmigen Gewerbetreibenden zwischen 2000 und 2006 liegt kein rassistisches Tatmotiv zugrunde. Zudem wurde der Mord nicht mit der berüchtigten Pistole Ceska 83 begangen, sondern mit zwei anderen Waffen, einer Tokarew TT-33 und einer Radom VIS 35. Neben Kiesewetter gab es außerdem ein zweites Opfer, ihren 24 Jahre alter Kollegen Martin A., der schwer verletzt überlebte – ein weiterer Unterschied zu den sonstigen Attentaten des NSU. Außerdem entwendeten die Täter, neben anderen Ausrüstungsgegenständen der Beamten, deren Dienstwaffen. Sowohl die Polizei- als auch die Tatpistolen stellten die Ermittler im November 2011 im Wohnmobil in Eisenach, in dem die Leichen von Böhnhardt und Mundlos gefunden wurden, beziehungsweise in der ausgebrannten Wohnung des Trios in Zwickau sicher. Es ist nicht bekannt, daß die Täter an den anderen Tatorten ebenfalls Gegenstände entwendeten.

Die Ermittler versuchen den Polizistenmord, mit dem die NSU-Serie endete, damit zu erklären, daß durch den Angriff auf die Beamten, das „System“ getroffen werden sollte. Diese Theorie wird mit Hinweis auf das nach dem Auffliegen der Terrorzelle veröffentlichte Bekennervideo begründet, in dem auch der Angriff auf Polizisten thematisiert wird.

Warum aber haben sich die Täter ausgerechnet zwei Streifenpolizisten aus dem baden-württembergischen Heilbronn ausgesucht? Und war es wirklich Zufall, daß die ermordete Polizistin wie die mutmaßlichen Täter aus Thüringen stammten? Fragen, auf die auch Axel Mögelin, der in der vergangenen Woche als Zeuge vernommene Leiter der Sonderkommission „Parkplatz“, die für die Ermittlungen in Heilbronn zuständig war, keine befriedigenden Antworten liefern konnte. Der 38 Jahre alte Kriminaloberrat verglich den Fall mit einem Puzzle, bei dem viele Teile nicht zueinander paßten – oder aber, was die Sache noch kniffeliger macht, sich unterschiedlich zusammensetzen ließen.

Die Ermittlungen der Polizei wurden zusätzlich durch eine der größten Polizeipannen der Nachkriegsgeschichte behindert beziehungsweise in die Irre geleitet. Ende März 2009, also knapp zwei Jahre nach dem Mord an Kiesewetter, stellte sich heraus, daß die Wattestäbchen, mit denen am Tatort DNS-Spuren gesichert wurden, durch einen Produktionsfehler mit fremder DNS verunreinigt waren. Bis dahin hatte die Polizei in Deutschland, aber auch in Österreich und Frankreich eine ominöse Serientäterin gesucht, die unter dem Namen „Phantom von Heilbronn“ für zahlreiche Straftaten verantwortlich gemacht wurde. Die Aufdeckung der Verunreinigung sei eine „bittere Erkenntnis“ und ein schwerer Rückschlag gewesen, sagte Mögelin.

Obwohl es für die Tat in Heilbronn so viele Zeugenaussagen gibt wie sonst bei keinem der Fälle, die der Zwickauer Zelle zugeschrieben werden, bleibt das Tatgeschehen bruchstückhaft. Nach der Rekonstruktion der Polizei machten Michèle Kiesewetter und ihr Kollege am 25. April 2007 gegen 14 Uhr mit ihrem Streifenwagen Pause an der Theresienwiese in Heilbronn, einem Festplatz, auf dem gerade der Aufbau des Frühlingsfestes lief, als sich mindestens zwei Täter ihrem Fahrzeug näherten und den beiden Beamten gezielt in den Kopf schossen.

Neben den 2011 gefundenen Waffen sprechen weitere Erkenntnisse dafür, daß Mundlos und Böhnhardt und vermutlich auch Zschäpe am Tattag in Heilbronn waren. Gegen 14.37 Uhr notiert ein Polizeibeamter außerhalb der Stadt im Zuge der ausgelösten Ringfahndung das Kennzeichen eines aus Chemnitz stammenden Wohnmobils. Heute wissen die Ermittler, daß sie die Überprüfung der Nummer vermutlich auf die Spur des untergetauchten Trios gebracht hätte. Mögelin mußte sich daher im Untersuchungsausschuß die Frage gefallen lassen, warum die erfaßten Kennzeichen nicht zeitnah ausgewertet wurden. Hier zeigte sich wie bei manch anderer Gelegenheit während der Anhörung, daß es ein Unterschied ist, ob man einen Fall rekonstruiert, dessen mutmaßliche Täter man kennt ( also „retrograd“ ermittelt, wie Mögelin mehrfach sagte), oder aber ob man in alle Richtungen ermitteln muß, weil man eben keine konkreten Hinweise hat. Der erfahrene Ermittler verwies darauf, daß während der Ringfahndung 30.000 Nummern registriert worden sind. Eine zeitnahe Überprüfung aller Fahrzeuge und deren Halter wäre vom Zeitaufwand her unverhältnismäßig gewesen. Erst wenn es weitere Hinweise, etwa auf eine bestimmte Fahrzeugmarke gebe, sei es sinnvoll auf solche Massendaten zurückzugreifen, sagte Mögelin.

Für Nachfragen sorgten auch Berichte über eine mögliche Verwicklung von Geheimdiensten. Ende 2011 hatte der Stern ein angebliches Protokoll des amerikanischen Militärgeheimdienstes „Defense Intelligence Agency“ veröffentlicht, nach dem am Tattag amerikanische Agenten und Beamte eines Landesamtes für Verfassungsschutz in Heilbronn zwei Personen observiert hätten. Die Aktion im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen die islamistische Sauerlandgruppe wurde laut Protokoll um 13.50 Uhr „aufgrund einer Schießerei“, in die Rechtsextremisten und eine Polizeistreife verwickelt gewesen sein sollen, abgebrochen.

Die geschilderten Ereignisse und die Tatzeit würden zu dem Mord an Kiesewetter passen – indes haben die erwähnten Behörden jegliche Beteiligung an der Aktion bestritten. Die Ermittler, die laut Mögelin dieser Spur nachgegangen sind, gehen mittlerweile davon aus, daß es sich bei dem Dokument um eine Fälschung handelt. Dennoch gebe es noch eine offene Frage: Am Tattag sei in der Nähe von Heilbronn ein Auto mit dem Kennzeichen einer „amerikanischen Behörde“ in eine Geschwindigkeitskontrolle geraten. Nähere Angaben wollte der Polizist in der öffentlichen Sitzung mit Blick auf die laufenden Ermittlungen nicht machen.

Zwei weitere Merkwürdigkeiten, für die während der Ausschußsitzung keine Erklärung geliefert werden konnten, beziehen sich auf die Mitglieder der Zwickauer Zelle und ihr Umfeld. Offenbar gab es – anders als bei den meisten anderen Tatorten – eben doch eine nähere Beziehung zu Heilbronn. So existiert ein Foto, daß Beate Zschäpe vor dem in der Nähe gelegenen Schloß in Ludwigsburg zeigt. Sonderbar ist auch, daß ausgerechnet Tino Brandt, der Kopf des „Thüringer Heimatschutzes“, dem auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe vor ihrem Untertauchen angehörten, 2004 in der Nähe von Heibronn ein Haus erworben hat, das 15 Kilometer vom Tatort entfernt liegt. Brandt hat ausgesagt, das Haus lediglich als „Strohmann“ für einen Freund gekauft zu haben.

Diese und weitere offenen Fragen sind Gegenstand der noch laufenden Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft. Doch nicht wenige Beobachter bezweifeln, daß sich der Polizistenmord von Heilbronn überhaupt jemals schlüssig rekonstruieren läßt.

Foto: Tatort Theresienwiese in Heilbronn: Die Tat läßt sich nur bruchstückhaft rekonstruieren

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