© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/12 21. September 2012

Die Chance auf Leben geben
Ungewollt schwanger: Erst wollte Anja Wagner abtreiben. Dann bekam sie Skrupel – und Unterstützung für das Ja zu ihren Kindern
Hinrich Rohbohm

Sie wollte keine weiteren Kinder. Das stand für Anja Wagner fest. Die 40 Jahre alte gelernte Floristin sitzt im Café Schäfer und blickt auf die stark befahrene Bautzner Landstraße von Dresden. Sie trägt leopardenfarbene High-Heels, ein leopardenfarbenes Oberteil, Brille. An ihrem rechten Bein sticht ein großes Depeche-Mode-Tattoo hervor. Die wasserstoffblonden Haare sind zu Zöpfen zusammengebunden.

„Es war ein ‘Unfall’“, sagt sie. Damals, vor etwas mehr als drei Jahren. Sie spricht von ihren Kindern, die am 31. Oktober 2010 das Licht der Welt erblickten. Drillinge. Ihr Leben stand auf Messers Schneide. Denn Anja Wagner hatte sie ursprünglich abtreiben wollen. Sie hatte bereits drei erwachsene Kinder, war zweimal verheiratet, wollte keinen weiteren Nachwuchs.

„Man hat natürlich ein schlechtes Gewissen“, beginnt sie von damals zu erzählen. Von ihren Ängsten, ihrer Unsicherheit. „Ein Gefühl, das ich bisher noch nicht kannte“, erklärt sie. Sie hatte gerade einen „Burn-out“ hinter sich, war depressiv. Dann erfuhr sie: Es ist nicht nur ein Kind. Es werden drei. Drei Kinder töten? Anja Wagner beginnt mit sich zu ringen.

Ein Jahr zuvor lernt sie Simon Kraus kennen, ihren heutigen Lebensgefährten. Er war 18. Und sie 36. Er, ein „Wessi“, aus Stuttgart. Sie ist im sächsischen Döbeln geboren, lebt seit 1989 in Dresden. Das Internet hat das ungleiche Paar zusammengeführt. In einem sogenannten Emopunk-Forum hatte es gefunkt. Emo, das ist sowohl eine Musikrichtung aus dem Hardcore-Punk als auch eine Moderichtung, für die schwarz und platinblond gefärbte Haare, Schweißbänder und Nietengürtel charakteristisch sind. „Simon ist kein Punk, nur Emo“, erklärt Anja Wagner, daß es da Unterschiede gibt. Viele hätten Vorurteile gegenüber Emos, meint sie.

So würden sie fälschlicherweise als stets traurige Persönlichkeiten beschrieben, die viel weinen und sich „ritzen“, erklärt Wagner vorherrschende Klischees. „Ich habe mich auch geritzt“, betont sie und zeigt eine kleine Narbe am Arm. „Aber das war unfreiwillig, als mir eine Flasche Milch zersplitterte“, scherzt die Dresdnerin.

„Boah, ich hab’ gerade deine Bilder gesehen, ich krieg die Fresse nicht mehr zu“, habe ihr späterer Lebensgefährte ihr beim ersten Anblick ihrer Internet-Fotos Komplimente gepostet. Zwei Wochen später zieht er von Baden-Württemberg zu ihr nach Sachsen. Die Leopardenfrau und der 18 Jahre jüngere Emo-Mann. Kann das gutgehen?

Es kann. „Das ist alles eine Frage der Reife“, sagt sie und wird poetisch: „Liebe entsteht erst, wenn alle Schmetterlinge im Bauch tot sind und zerfallen am Boden liegen.“ Sie selbst war mit 18 Jahren das erste Mal schwanger. Ein Jahr später brachte sie ihre zweite Tochter Lysann zur Welt. „Sie wohnt gleich um die Ecke und paßt auf die Kleinen auf, wenn wir mal nicht da sind. Das klappt prima“, erzählt sie.

Die oftmals verbreiteten Bedenken gegen eine Schwangerschaft in jungen Jahren kann sie nicht nachvollziehen. „Ich verstehe nicht, warum viele erst so spät Kinder bekommen wollen. Man kann auch ohne weiteres mit 16 Mutter sein, da werden viel zu viele Ängste geschürt“, kritisiert sie die derzeit vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Früher habe sie am liebsten jedes Jahr ein Kind bekommen wollen. Vorausgesetzt, in der Beziehung stimmt alles. Doch jetzt ist sie 40, da sei das inzwischen anders. „Ich war mit meiner Lebensplanung eigentlich durch.“ Daß sie keine weiteren Kinder mehr wollte, hatte sie auch ihrem Lebensgefährten erzählt, mit dem sie sich blendend verstehe.

„Der Blödsinn, der mir nicht einfällt, fällt ihm ein“, verrät sie. Heiraten will sie jedoch nicht wieder. „Das hatte ich schon zweimal, das muß nicht mehr sein.“ Obwohl sie keine weiteren Kinder mehr wollte, geschah es dann doch. Es war Sommer. „Ein herrlicher Augusttag“, erinnert sie sich. Sie waren auf das Konzert ihrer Lieblingsband gegangen und später „etwas übermütig geworden“.

„Mir war sofort klar, daß ich schwanger war“, weiß sie noch heute. „Bauchgefühl.“ Trotzdem macht sie einen Schwangerschaftstest. „Bloß nicht zuviel Geld ausgeben für den Mist“, denkt sie. Der Test ist positiv. „Vielleicht wird’s ja noch anders“, meint ihr Mann. „Nee, da wird nichts mehr anders“, weiß sie, die Abtreibung bereits fest eingeplant.

Anja Wagner erzählt von der Abtreibung mit Medikamenten. Davon, daß diese Methode als Asthma-Geschädigte für sie aber problematisch ist. In der neunten Schwangerschaftswoche wird ihr dann plötzlich mulmig. Sie ist nach London gefahren, ihre Lieblingsstadt, wie sie als bekennender Großbritannien-Fan sagt. „Mädels, hier stimmt was nicht“, meint sie zu ihren Freundinnen. Sie fühle sich schon wie im fünften Monat. Unsicherheit macht sich bei ihr breit. Sie geht zur Ultraschall-Untersuchung. Das Ergebnis: Drillinge kündigen sich an.

„Ganz großes Tennis. Da begannen natürlich neue Überlegungen“, schildert sie ihre damalige Situation. Zweifel kommen auf. „Ich nehme den Kindern die Chance auf das Leben“, wird sie sich immer zunehmender bewußt. Sie surft durch das Internet, saugt alle möglichen Informationen zum Thema Schwangerschaft auf, zieht los, um sich Babys auf mehreren Frühchenstationen anzusehen. „Da hab ich auf einmal so ’nen ganz süßen Kackfrosch“ gesehen, schwärmt sie noch heute.

Da hat es klick gemacht. Die Freude über die Drillinge gewinnt die Oberhand über die Abtreibung, das Leben beginnt schwerer zu wiegen als der Tod. Und doch war da diese Angst. „Weil die Kinder ja eigentlich wegsollten, hatte ich nicht so sehr auf meine Gesundheit geachtet.“ Wieder kommen Zweifel. Was, wenn die Babys krank zur Welt kommen? Sie durchforstet erneut das Internet, sucht Hilfe. Doch niemand kann ihr in bezug auf Drillinge wirklich weiterhelfen. Schließlich erhält sie den Tip, sich an Pro Femina zu wenden, einen gemeinnützigen Verein zur Beratung und Hilfe für ungewollt Schwangere (siehe Infokasten).

Der Kontakt sei „unglaublich gut“ gewesen, habe ihr Sicherheit gegeben und auch ihre finanziellen Bedenken gegen Drillinge ausräumen können. „Es war klar, daß wir unbedingt ein Auto benötigen werden. Und mit Drillingen konnten wir uns ja nun auch schließlich keine alte Klapperkiste anschaffen.“ Sie wollen sich einen Ford Mondeo anschaffen, einen Gebrauchtwagen. Doch es hapert an der Finanzierung. Weil sie ihre Zwangslage glaubhaft darlegen können, springt Pro Femina für die Familie ein. „Der Verein hat uns mit einem zinslosen Kredit in Höhe von 7.000 Euro über die Runden geholfen“, berichtet Anja Wagner davon, wie die Organisation sie unterstützte und dadurch auch einen weiteren Abtreibungsgrund entkräften konnte.

Einen Tag vor der endgültigen Entscheidung, ob sie abtreiben solle oder nicht, macht Anja Wagner eine erneute Ultraschall-Untersuchung. „Da sahen wir plötzlich die Arme und Beinchen der drei sich bewegen. Einfach süß, wie die da am Abrocken waren.“ Ihren Lebensgefährten haben dabei die Gefühle schlicht überwältigt. Er hatte weinen müssen. Eine Begebenheit, die schließlich der Auslöser war für die endgültige Entscheidung: Die Kinder sollen leben.

Am 31. März 2010 erblicken Lily Rock, Lilian London und Lilis Moon das Licht der Welt. „Da kommen sie“, sagt Anja Wagner und zeigt vom Café aus auf die andere Seite der Bautzner Landstraße. Vater Simon hat sich alle drei geschnappt, bringt sie sicher über die Straße. Alle mit gelbem Hemd und lilafarbener Hose bekleidet, laufen sie jubelnd ihrer Mutter entgegen.

Im Ford Mondeo ist der Rücksitz mit Kindersitzen belegt. Behutsam hievt der Vater die kleinen Mädchen in den Wagen, um sie anzuschnallen. Es geht nach Hause. In eine kleine 49-Quadratmeter-Dachgeschoßwohnung mit fast ebenso großem Balkon, den zahlreiche Pflanzen zieren. Das Reich der gelernten Floristin Anja Wagner. Hier ist die Familie glücklich. „Aber wenn die Kinder größer werden, brauchen wir mehr Platz, da werden wir umziehen müssen“, seufzt Anja Wagner.

Den Kredit für den Ford Mondeo hat die Familie inzwischen vollständig zurückgezahlt. Die Drillinge besuchen mittlerweile den Kindergarten. Und Simon Kraus wird in Kürze eine Ausbildung zum Informatiker absolvieren. „Ich möchte die Kinder nicht mehr vermissen, das sind meine kleinen Pappnasen“, resümiert Anja Wagner, die ihre Entscheidung für das Leben nie bereut hat. Frauen in ähnlichen Situationen wie sie möchte sie zu nichts drängen. Aber: „Es ist nicht so schlimm, wie einem oft weisgemacht wird“, sagt sie.

Plötzlich erklingt ein lautes Knattern aus der Garage. Simon Kraus fährt sein Trike heraus, ein dreirädriges Motorrad. Wenn die Kinder größer sind, will die Familie damit Ausflüge unternehmen. Die Aufmachung des Gefährts erinnert ein wenig an „Ghost-Rider“. Mit den Drillingen an Bord dürfte es zum „LifeRider“ werden.

 

Pro Femina

Pro Femina e.V. ist ein gemeinnütziger Verein zur Beratung und Hilfe für ungewollt Schwangere. Neben der telefonischen und persönlichen Beratung liegt der Schwerpunkt auf der Online-Beratung per E-Mail und in Internetforen. Zentrales Ziel von Pro Femina ist es, mit der Schwangeren im Konflikt eine echte Alternative zur Abtreibung zu erarbeiten und so ein Leben mit Kind zu ermöglichen.

Wer Müttern und ihren ungeborenen Kindern helfen will, kann entweder über das sichere Online-Spendenformular auf der Internetseite spenden oder als 1000plus-Botschafter die Aktionen von Pro Femina unterstützen.

Laut offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamts sind in Deutschland im Jahr 2010 nachweislich insgesamt 110.431 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen worden; die meisten davon (107.330) aufgrund der sogenannten Beratungsregelung. Bei 3.077 Abtreibungen lag eine medizinische Indikation vor, bei lediglich 24 eine kriminologische (etwa nach Vergewaltigung).

In den meisten Fällen (52.556) waren die Schwangeren zum Zeitpunkt der Abtreibung zwischen 20 und 30 Jahre alt; nur 4.484 waren zwischen 15 und 18 Jahre alt.

Bezogen auf jeweils 10.000 Frauen haben die meisten Abtreibungen in Berlin stattgefunden (134), gefolgt von Bremen (125) und Hamburg (113). Unter den Flächenländern weisen Mecklenburg-Vorpommern (110) und Sachsen-Anhalt (103) die meisten Fälle auf. Die geringste Zahl von nachgewiesenen Abtreibungen gibt es in Bayern (48) und Baden-Württemberg (57).

Pro Femina im Internet: www.1000plus.de

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