© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/12 21. September 2012

Geburtsstunde der Nation
Keltenjahr 2012: Siedlungen nach griechischem und römischem Modell / Forschungszentrum, Ausgrabungsstätte und Museum in Burgund / JF-Serie – Teil vier
Karlheinz Weissmann

Der lateinische Begriff „oppidum“ wurde von Cäsar in seinem „Gallischen Krieg“ für die befestigten größeren Siedlungen verwendet, die seine keltischen Gegner bevorzugt auf Hügeln errichteten. Auch wenn Anlagen wie die auf dem Glauberg (JF 35/12) oder die Heuneburg mehr als Fürstensitze waren und bereits eine stattliche Einwohnerzahl und eine erhebliche Ausdehnung besaßen, wird man sagen können, daß Städte im genaueren Sinn den Kelten lange Zeit fremd blieben. Die antike Polis gehörte zu den Spezifika des Mittelmeerraums, nördlich der Alpen kam sie praktisch nicht vor. Eigene keltische Städte tauchten bezeichnenderweise zuerst in Galatien auf, das frühzeitig hellenisiert wurde, und dann in Gallien, wo die griechischen Kolonialstädte eine gewisse Vorbildfunktion ausgeübt haben dürften.

Cäsar unterschied von den Oppida der Gallier die Urbes, das heißt Städte nach mediterranem Muster. Aber auch die Oppida erinnerten an das griechische beziehungsweise römische Modell, so im Hinblick auf das Vorhandensein eines Forums mit Tempel, die Einteilung in Wohnbereiche der Handwerker oder der Vornehmen und die Anlage einer Festungsmauer, wenngleich die Kelten, wie Alexander Demandt vermerkt, „kein Geschick mit dem Werkstoff Stein“ besaßen.

Das am besten erforschte Oppidum der spätkeltischen Zeit ist bis heute das von Bibracte. Bereits 1867 begann man mit Ausgrabungen in der Nähe des kleinen burgundischen Orts Saint-Léger-sous-Beuvray, die den Beweis dafür lieferten, daß dort – auf dem Mont Beuvray – das antike Bibracte gelegen hatte, die Hauptstadt des mächtigen Stamms der Haeduer. Der Grund für das besondere Interesse war, daß sich hier nach einer Bemerkung Cäsars 52 vor Christus die gallischen Krieger versammelt und Vercingetorix den Oberbefehl im Kampf gegen die Römer übertragen hatten. In der Zeit der „Keltischen Renaissance“, die Frankreich während des 19. Jahrhunderts erlebte, galt dieser Akt als (eine) Geburtsstunde der Nation. Ohne diesen Hintergrund zu kennen, bliebe der Entschluß des – notabene: sozialistischen – Präsidenten François Mitterrand ganz unverständlich, die Ausgrabungen, die seit dem Ersten Weltkrieg ruhten, 1984 wieder aufnehmen zu lassen und in der abgelegenen Gegend 1994 das Zentrum zur Erforschung der keltischen Zivilisation zu gründen und einen gigantischen Gebäudekomplex samt Archäologischem Park und Museum in den burgundischen Wald zu stellen.

Mittlerweile hat das Zentrum die Phase der Improvisation hinter sich, ist die nach Bibracte führende Straße vollständig asphaltiert und die Dauerausstellung des Museums überarbeitet. Selbstverständlich steht im Mittelpunkt der Präsentation die Welt der Oppida, deren Entwicklung seit dem 2. Jahrhundert vor Christus mit erheblichem Aufwand dargeboten wird. Das Spektrum reicht von der politischen und religiösen Organisation über die soziale Schichtung bis zu Fragen der technischen Standards, der Handelswege und des Geldverkehrs. Auch die Erforschung des Mont Beuvray und die Anlage der Rekonstruktionen im Umfeld des Museums werden breit und minutiös geschildert.

Allerdings kommt die Einbettung in den Gesamtrahmen, die man bei einem „Museum der keltischen Zivilisation“ erwarten würde, etwas kurz. Das gilt, obwohl Bibracte durch den Austausch mit anderen Museen über eine beeindruckende Zahl von wertvollen Leihgaben verfügt. Außerdem muß man feststellen, daß die Überarbeitung, die in diesem Frühjahr abgeschlossen wurde, die Anschaulichkeit, die die erste Ausstellung kennzeichnete, in den Hintergrund hat treten lassen.

Während man sonst in französischen Museen eher ein Zuviel als ein Zuwenig an virtueller Realität erwarten darf, verläuft der Trend in Bibracte genau umgekehrt. Das ist besonders klar erkennbar am Abbau der lebensgroßen Figuren, mit denen man ursprünglich das Leben und die Repräsentationsformen der gallischen Aristokratie gezeigt hat. Offenbar orientiert sich das neue Programm strikter an der Arbeit und den Methoden der Archäologie, was natürlich auf Kosten der im weitesten Sinn pädagogischen Absichten geht.

Das Museum ist nur in der Zeit vom 10. März bis 11. November eines Jahres zu besichtigen. Nähere Informationen unter

www.bibracte.fr

Die Netzseite steht auch in deutscher Sprache zur Verfügung.

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