© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/12 28. September 2012

Familienpolitik
Verschwundene Kindheit
Rolf Dressler

Unlängst machte Norbert Blüm (CDU)seinem Herzen Luft und griff zur Feder für einen fulminanten Aufruf zu Einkehr und Umkehr: In Deutschland, einem der materiell reichsten Länder der Erde, wird die Erziehung verstaatlicht, die Kindheit enteignet, die Familie den Sozialisten anheimgegeben. Ohne Maß und Ziel, ohne Rücksicht auf Verluste.

Dabei hatte das, was der altersweise Ex-Arbeitsminister aus der Ära Kohl heute so plausibel wie aufrüttelnd schreibt, schon Anfang der achtziger Jahre der amerikanische Soziologe Neil Postman punktgenau vorhergesagt in seinem Bestseller „Das Verschwinden der Kindheit“. Verblüffend decken sich Postmans Prophezeiungen mit Blüms Zustandsbeschreibung anno 2012.

Es ist ja leider nur allzu wahr: Weil schon unser allerjüngster Nachwuchs praktisch rund um die Uhr überwiegend fremdbestimmt verplant wird, bleibt für Familie (was offenkundig genauso gewollt ist) nur noch der kümmerliche Rest. Familie verwandelt sich in eine Art Garage, in die man abends einfährt, um morgens, frisch aufgetankt sozusagen, möglichst zügig wieder hinauszufahren ins eigentliche, vermeintlich einzig wahre Leben.

Die Älteren erinnern sich noch an ihre Jugendtage, die sinnvollerweise, völlig anders als heute, nur zu Teilen von der Schule bestimmt wurden, wohingegen die jetzigen, von Norbert Blüm treffend so genannten „Erziehungsfahnder“ nun auch noch das letzte schulfreie Gelände entdeckt haben: die „Kita für alle“ – als Einstieg in ihr Lieblingsprojekt einer von oben befohlenen allgemeinen Kita-Pflicht.

Eines steht fest: Eine solche familienfeindliche Politik, noch dazu befeuert von einer immer häufigeren (Doppel-)Erwerbstätigkeit der Eltern, wird weder dem Geburtendefizit noch dem daraus erwachsenden Arbeitskräftemangel abhelfen. Ironie der Geschichte: Es war einst, in den späten fünfziger Jahren, kein Geringerer als der legendäre christdemokratische Bundeskanzler Konrad Adenauer, der mit seiner Rentenreform die Altersversorgung, die bis dahin gleichsam der Lohn für Kindererziehung in der Familie gewesen war, fortan an die Erwerbsarbeit koppelte.

Seither haben Eltern ihren Kindern gegenüber weniger Versorgungsansprüche als ihre kinderlosen Nachbarn von nebenan. Sehr seltsam.

 

Rolf Dressler war langjähriger Chefredakteur beim „West­falen-Blatt“ in Bielefeld und ist nun freier Journalist.

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