© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/12 28. September 2012

Es ist mein Gehirn!
Fühlen und Denken: Die derzeitige Krise fungiert als Katalysator für ein neues Menschenbild
Felix Dirsch

Ein einschneidendes Ereignis wie die noch lange nicht beendete Finanz- und Schuldenkrise hinterläßt auch in kultureller und kulturtheoretischer Hinsicht seine Spuren. Man kann es etwas zugespitzt so formulieren: Der altehrwürdigen, hochabstrakten Denkfigur des Homo oeconomicus, des Nutzenmaximierers, die nie viele Freunde gefunden hat, wird in vielrezipierten neueren Publikationen endgültig der Garaus gemacht. Ein neues Menschenbild, das auf Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften, der Kognitionspsychologie, der Ethologie und anderen Disziplinen zurückgreifen kann, läßt immer deutlichere Konturen erkennen.

Zu den klassischen Grundlagen der Ökonomie gehört das Rationalitäts- wie auch das Nutzenmaximierungs- und Wohlfahrtsprinzip. Grundlegend für die klassische Theorie ist die Moralphilosophie von Adam Smith. Seine auf Vorläufer wie Bernard Mandeville und Francis Hutcheson zurückgehende Auffassung vom nutzenkalkulierenden, vernünftig handelnden Lebewesen, das Egoismus in Altruismus zu verwandeln sucht, wurde in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten wegen seiner angeblichen Wirklichkeitsferne oft belächelt. Anhänger verweisen dennoch auf die Tragfähigkeit des Ansatzes Smiths, persönliche Freiheit, wirtschaftliche und kulturelle Leistungen sowie soziale Koexistenz miteinander in Einklang gebracht zu haben.

Nun sind bekanntlich die Einwände gegen den Homo oeconomicus so alt wie dieses Theoriekonstrukt selbst. Unter den Bedingungen des westlichen Kapitalismus und seiner klaren Wohlfahrtsgewinne gibt es jedoch kaum einen führenden Ökonomen, der ihm nichts hätte abgewinnen können. Noch in den 1990er Jahren erhält der Wirtschaftswissenschaftler Gery S. Becker den Nobelpreis. Er treibt die Implikationen neoklassischer Theorie quasi auf die Spitze, indem er die Vorteilsannahmen auf die Bereiche Kriminalität, Rassismus, Rauschgiftsucht, Ehe und andere ausweitet.

Zwar bereitet die Verhaltensökonomik, unter anderem mit diversen Experimenten, die neoklassische Theorieannahmen nachhaltig widerlegen, schon seit rund drei Jahrzehnten den Thronsturz vor. Das mindert die Bedeutung von David Brooks’ Studie „Das soziale Tier“ aber in keiner Weise. Sie präsentiert ein imposantes Mosaik von neueren humanwissenschaftlichen Erkenntnissen, die dahingehend konvergieren, daß unser Leben primär von Beziehungen, Gefühlen und Intuitionen geformt wird.

Anhand der Biographie der beiden erfundenen Protagonisten, Harold und Erica, bringt der Verfasser in einer Mischung aus fiktiver Erzählung und Sachbuch den Paradigmenwechsel dem Leser näher. Schlüsselbegriffe der Untersuchung sind Bindung, Normen, Lernen, Selbstbeherrschung, Kultur und viele mehr. Solche Einflüsse werden in jedem Lebensabschnitt der beiden Hauptdarsteller herausgestellt, etwa die Genese der Mutter-Kind-Dyade in den ersten drei Lebensjahren, die besonders der britische Psychiater John Bowlby hervorgehoben hat und die in der gegenwärtigen Debatte um Krippenbetreuung hier und da eine gewisse Rolle spielt. Neben den vielen inspirativen Passagen, die zeigen, welche Aspekte des neuen Menschenbildes in den verschiedenen Abschnitten von Ericas und Harolds Lebenslauf zum Ausdruck kommen, ist besonders auf den Abschnitt über „Verhaltensökonomik“ hinzuweisen.

Noch größerer Erfolg als Brooks ist der Abhandlung des Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften, Daniel Kahneman, beschieden. Der Gelehrte, oft als bekanntester lebender Psychologe der Welt bejubelt, legt mit seinem Traktat „Schnelles Denken, langsames Denken“ einen vielbeachteten Beitrag zur Demontage der Rationalität der Märkte vor.

Schon jetzt ist sein hier unternommener Versuch legendär, den äußerst komplexen Vorgang des Denkens mittels zweier Systeme zu erhellen: System 1, das automatisch, schnell und ohne willentliche Steuerung arbeitet und System 2, das eher diffizile Berechnungen zu lösen versucht und dem logisch denkenden Selbst imponiert ob seines hervorragenden Könnens. Kahneman zeigt am Beispiel zahlloser Fälle, wie das Gehirn diese Unterscheidung operationalisiert und wie solche Prozesse plausibel zu erklären sind. Auch die komplizierten Wechselwirkungen beider Systeme werden dargestellt, nämlich im Sinne einer effizienten Arbeitsteilung.

Selbstverständlich kann auch eine so exzeptionelle Monographie, die fast überall in der westlichen Welt zum Bestseller avanciert ist, nicht alle Einzelheiten der vielschichtigen Materie klären. Aber sie verdeutlicht eindrucksvoll, daß Unsicherheiten und Fehleranfälligkeit notwendig zu jenem Apparat gehören, ohne den es nun einmal keine Erkenntnis gibt.

Der Vorstellung einer autonom abwägenden, entscheidungssicheren Persönlichkeit ist mit Kahnemans Forschungsresultaten endgültig der Boden entzogen. Der interdisziplinäre Parforceritt stellt hohe Anforderungen an den Rezipienten, ist aber überaus lohnend. Wie sehr derartige Ergebnisse in die wissenschaftliche Landschaft passen, belegt die Übereinstimmung mit oft debattierten neuen Sichtweisen der Neurowissenschaften. Etliche Konzepte aus diesem Bereich verneinen unter Hinweis auf die zeitliche Priorität neuronaler Verschaltungen vor bewußten Entscheidungen den Sinn des herkömmlichen Freiheitsbegriffs. In einem Satz ausgedrückt, heißt das: Nicht ich bin es, der verantwortlich handelt, mein Gehirn ist es!

So ist es naheliegend, daß einige Rezensenten der Abhandlung Kahnemans die weltweit aufgenommene Descartes-Kritik des Gehirnforschers Antonio Damasio („Descartes Irrtum“) zur Seite gestellt haben, die kürzlich durch ein aktualisiertes Buch („Selbst ist der Mensch“) vom selben Autor untermauert worden ist.

Eine noch zu schreibende Kulturgeschichte des neuen Menschenbildes wird das gegenwärtig in Umrissen absehbare Modell eines Homo empathicus nicht nur in allen Einzelheiten aufzuzeigen haben, sondern auch würdigen müssen, wie sehr David Brooks und mehr noch Daniel Kahneman als Geburtshelfer gewirkt haben.

David Brooks: Das soziale Tier. Ein neues Menschenbild zeigt, wie Beziehungen, Gefühle und Intuitionen unser Leben formen. DVA, München 2012, gebunden, 608 Seiten, 24,99 Euro

Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken. Siedler Verlag, München 2012, gebunden, 624 Seiten, 26,99 Euro

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