© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/12 28. September 2012

Deutschland singt
Kino: Ein musikethnologischer Streifzug durch eine vielfältige Heimat
Sebastian Hennig

Der Film beginnt mit einem filmischen Kniff des frühen Kinos, als man zum Schrecken der Zuschauer eine Lokomotive frontal auf die Kamera zufahren ließ. Bequem ist der Leipziger Gewandhauschor bei seiner Probe vom Kinosessel aus zu beobachten: „Wenn alle Brünnlein fließen ...“ Dann wendet sich der Dirigent Gregor Meyer plötzlich zum Saal und fordert zum Mitsingen auf. Unzufrieden mit dem Ergebnis verleiht der Chorerzieher seiner Forderung weiteren Nachdruck.

Im Fortgang des Filmes läßt er sich dann noch einmal über die Zeitlosigkeit der Volkslieder vernehmen: „Es geht um Liebe, es geht um Freundschaft, es geht um Tod natürlich. Also, das sind alles Themen, die im Grunde genommen jeden Menschen immer betreffen, die auch für jeden von uns existentiell sind. Das andere ist aber, daß das Singen an sich im Volk, und dafür sind die Volkslieder ja gemacht, nicht mehr so diesen Stellenwert hat wie vor fünfzig, sechzig Jahren. Und dadurch könnte ich mir vorstellen, daß das Weitertragen des Volksliedes nicht gefährdet, aber zumindest etwas gebremst ist.“

Daß diese Bremse inzwischen nicht mehr so scharf angezogen ist, haben Arne Birkenstock und Jan Tengeler während der Arbeit zu ihrem Film „Sound of Heimat“ bemerkt. „Was wir in dieser ganzen Zeit erlebt haben, ist eine verblüffende Veränderung, Verzweigung und Verstärkung der deutschen Volksmusik. (…) Verschüttete Schätze tauchen auf, die Schatten der Vergangenheit werden kürzer und etwas weniger düster. Die Deutschen singen wieder.“

Seit Jahren lebt der neuseeländische Musiker Hayden Chisholm in Köln und bereist von dort aus alle Kontinente, um unterwegs seine musikalische Bildung anzureichern. Nur vor der Haustüre hat er sich in dieser Hinsicht noch nicht so recht umgetan. Man kann auch sagen, er hat sich gerade dadurch gut eingefügt unter den Deutschen, an denen er bemerkt hat: „Dieselben Menschen, die feuchte Augen bekommen, wenn ein alter Indio in den Anden zum tausendsten Male ‘El Cóndor Pasa’ in seine Panflöte bläst, kriegen Pickel, wenn man sie auf die Melodien ihrer Heimat anspricht.“

Im Film macht er sich nun auf die Reise, um herauszufinden, wo und was im Land gesungen wird oder warum auch nicht. In seiner Wahlheimatstadt trifft sich in der Kneipe „Weißer Holunder“ wöchentlich der „Singende Holunder“. Angestimmt werden lokale Lieder wie „Ich bin de Stroß eraf jejange“ und „En unserem Veedel“ unter der Prämisse „Wenn der Ton danebbe geht, da geht der halt danebbe.“

Unbefangenheit und Hingabe an den Ort wird auch von der Jodl-Lehrerin Loni Kuisle vorausgesetzt, wenn sie ihre Aspiranten in die Allgäuer Berge führt. Derb und herzlich, ohne spirituelle Verbrämung, werden die zu gewagten mehrstimmigen Juchzern geführt, mit dem Rauschen des Waldes als Generalbaß.

Die nächste Station ist Bamberg, wo diese jungen Leute unversehens eine Menge Sachen praktisch befördern, die sie theoretisch ablehnen. Man muß sich nur ein „ks“ für ein x vormachen und exorzistisch raunen: „Volxmusik ist böhhse!“ und schon kann wieder unbefangen musiziert und getanzt werden.

Auf der Autobusfahrt zum Festival nach Stelzen wird „Ännchen von Tharau“ angestimmt.

Vor der Scheune hat sich der Chor zum Abschiedsständchen aufgebaut. Der Ton wird erst zu tief genommen, und es muß neu eingesetzt werden. Die Szenen des Filmes wurden nicht gestellt. In der Regel landeten die ersten Aufnahme fertig im Kasten. Hayden Chisholm ist tief berührt vom schlesischen Lied aus dem 17. Jahrhundert. „Morgen muß ich fort von hier“ und sucht die Melodie auf dem Sopransaxophon. Die ideologischen Vorbehalte gegen das deutsche Volkslied werden nur kurz angedeutet in den düsteren Erinnerungen des polnischen Häftlings vom verordneten Gesang für eine uniformierte Volksgemeinschaft wie für ihre diffamierten Feinde.

Auch später gab es noch Gründe, das Musizieren zu unterlassen. Im vogtländischen Klingenthal trifft der Reisende auf den Bandoneonspieler Rudi Vodel. Der erzählt, wie er einst in der kurzen Mittagspause von der Schule nach Hause gehetzt ist, nur um einige Minuten üben zu können. Später sollte er in Hotels vor den Bonzen spielen: „Entweder es kam der liebe Gott drin vor, das wollten sie nicht wissen. Oder es kam was anderes mit dem König. ‘Mit kein König möcht ich tauschen’, das durfte man auch nicht singen, weil es ja keine Könige bei uns gab. … dann haben die gesagt: ‘Das darf man nicht singen und das Lied darf man nicht singen und das darf man nicht sagen’, und so weiter und so fort. (…) Und das sind solche Sachen, wo du dann zum Schluß sagst: ‘Leck mich fett!’“

Jetzt trägt der baumlange Mann im Westover trotzig das Verbotene vor: „Deutsch und frei wolln mer sei, un da bleimer dabei, weil mer Arzgebirger sei“. Die Begegnung der beiden verschiedenen Musikanten, des Rastlosen und des Baumfesten, ist neben dem mehrstimmigen Jodelkonzert in den Allgäuer Bergen die schönste Episode des Filmes.

Der Forschungsreisende resümiert: „Ich habe nur einen Bruchteil von der Musik gehört, die dieses Land zu bieten hat. Ich habe wahnsinnig schöne Melodien gelernt, Lieder, Tänze. Und tief verborgen irgendwo in dieser Musik ist eben das Gefühl von Heimat. Ich habe erlebt, wieviel Freude euch Deutschen diese Musik macht. Auch wenn immer ein Hauch von Melancholie dabei ist. Die gehört wohl dazu hier in Deutschland. Sie macht auch eure Volksmusik zu etwas ganz Besonderem.“

Foto: Musiker Hayden Chisholm im Kuhstall: „Ich habe wahnsinnig schöne Melodien gelernt“

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