© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/12 05. Oktober 2012

„Künftig ein globales Problem“
Die weltweite Umwälzung der Altersstruktur birgt eine bisher kaum beachtete Gefahr: die enorme Ausbreitung von Alzheimer. Demenz droht Krebs als medizinisches Problem Nummer eins abzulösen, warnt ADI-Sprecher Marc Wortmann.
Moritz Schwarz

Herr Wortmann, wird die Alzheimer-Krankheit unterschätzt?

Wortmann: Auf jeden Fall. 2010 hat uns diese Krankheit weltweit 604 Milliarden US-Dollar gekostet. Das mag für Sie zunächst nur eine Zahl sein ...

Der deutsche Bundeshaushalt betrug im gleichen Jahr rund 320 Milliarden Euro, etwa 415 Milliarden Dollar.

Wortmann: Das ist schon mal ein guter Vergleich. Wir können aber Alzheimer auch mal so betrachten, als ob es eine Volkswirtschaft wäre, dann wäre diese schon bis auf Platz 18 in der internationalen Rangordnung vorgerückt. Noch eindrücklicher wird es, wenn wir annehmen, Alzheimer sei ein Unternehmen, denn dann stünde es bereits an erster Stelle! Vor Wall-Mart und dem Ölkonzern Exxon Mobil. Das eigentliche Problem aber liegt im drohenden Wachstum der Krankheit: Unsere Organisation hat hochgerechnet, daß die Zahl der Demenzkranken weltweit von heute über 35 Millionen auf voraussichtlich über 115 Millionen im Jahr 2050 anwachsen wird. Das ist mehr als das Dreifache in nur knapp vierzig Jahren! Vorausgesetzt natürlich, wir finden nicht zuvor Mittel und Wege, die Krankheit einzudämmen.

Woher kommt dieser enorme Anstieg?

Wortmann: Das hat mit dem steigenden Lebensalter der Menschen zu tun. Bei den unter 65jährigen liegt der Anteil der Demenzerkrankten noch bei nur ein bis zwei Prozent. Bis zum Alter von 85 steigt dieser Anteil aber auf etwa zwanzig Prozent! Nun wächst allgemein die Lebenserwartung der Menschen – und damit auch die Zahl der Alzheimer-Kranken. Viele Leute glauben, in Südamerika, Asien und Afrika steige lediglich die Bevölkerungszahl, nur in Europa und den USA dagegen das Lebensalter. Aber tatsächlich steigt das Durchschnittsalter der Menschen überall, sogar in Afrika. Wir erleben weltweit eine enorme Umwälzung der Altersstruktur: Während es um 1950 global noch etwa nur acht Prozent Alte gab, werden es um 2050 etwa zweiundzwanzig Prozent sein. Vor allem ist es Asien, und dort insbesondere China, das uns Sorgen macht, denn im Reich der Mitte werden bis 2050 voraussichtlich die Hälfte der prognostizierten 115 Millionen Alzheimer-Kranken leben.

Was ist mit Deutschland?

Wortmann: Deutschland macht mit dann vermutlich etwa 2,6 Millionen Kranken an der Gesamtzahl nur einen vergleichsweise geringen Anteil aus. Allerdings ist auch das immerhin eine Verdoppelung der Krankenzahl in Deutschland verglichen mit heute.

Einige Experten nehmen an, Alzheimer werde in Zukunft Krebs als größtes medizinisches Problem ablösen.

Wortmann: Das wäre absolut möglich. Zwar sterben mehr Leute an Krebs als an Alzheimer, aber in die Krebsforschung wird weit mehr investiert. Macht die Krebsheilung weiter Fortschritte, könnte das wachsende Problem Alzheimer Krebs in Zukunft überholen. Vor allem aber gibt es bei Alzheimer ein verstecktes Problem: Ein Krebskranker wird geheilt oder er stirbt. Ein Alzheimer-Kranker dagegen bedarf jahrelanger Pflege, zehn bis fünfzehn Jahre etwa müssen diese Patienten betreut werden. Damit ist Alzheimer künftig wohl die größere finanzielle Belastung für Kranken- und Pflegekassen. Gut vorstellbar, daß in Zukunft versucht wird, auf globaler Ebene eine Lösung dafür zu finden – so wie wir heute versuchen, eine globale Lösung etwa für das Klimaproblem zu finden.

Sie fordern mehr Geld für die Alzheimer-Forschung, um das zu verhindern. Aber wie realistisch ist es, daß tatsächlich ein Medikament gefunden wird?

Wortmann: Garantieren kann es keiner, aber ich glaube, es ist möglich, eine Lösung zu finden, und wenn es nur wäre, die Krankheit abzumildern.

Wenn Alzheimer mit dem Altern zusammenhängt, kann dann überhaupt ein Medikament entwickelt werden? Schließlich gibt es gegen Alter keine Medizin.

Wortmann: Das stimmt, aber selbst im Endstadium sind bei Alzheimer nicht alle Gehirnzellen betroffen. Es muß also einen Grund geben, warum manche Zellen von der Krankheit erfaßt werden, andere nicht. Wenn man den Grund dafür herausfindet, dann kann auf dieser Basis vielleicht ein Mittel entdeckt werden.

Wenn Alzheimer diagnostiziert wird, was kann dann heute überhaupt getan werden?

Wortmann: Immerhin können wir schon bei einem Teil der Patienten das Fortschreiten der Krankheit medikamentös verlangsamen. Zudem gibt es die Möglichkeit, mit „kognitiver Stimulation“ dagegen anzuwirken. Diese Therapien regen etwa durch Sozialkontakte, Denkspiele und aktive Freizeitgestaltung auch das erkrankte Gehirn noch an und ermöglichen ihm, unter Umständen länger „durchzuhalten“. Nicht zuletzt ist dieser Zeitgewinn wichtig, um die pflegenden Angehörigen möglichst lange zu entlasten und ihnen mehr Zeit zu geben, sich in die Situation zu finden.

Früher oder später aber ist jeder Kranke vollständig verwirrt?

Wortmann: Viele sterben altersbedingt, bevor sie das Alzheimer-Endstadium erreichen. Wenn man diesen Faktor kalkuliert, dann lohnt es sich um so mehr, den Erkrankten in der Zeit bis dahin möglichst „fit“ zu erhalten. Nur etwa fünf Prozent der Kranken leben so lange, daß sie die letzte Phase erreichen, in der man quasi nur noch vegetiert.

Die Krankheit macht tatsächlich nur gut die Hälfte aller Demenz-Erkrankungen aus. Warum sprechen wir dennoch vor allem immer von Alzheimer?

Wortmann: Es stimmt, zwar handelt es sich bei etwa sechzig Prozent der Demenz-Fälle um Alzheimer, aber das heißt im Umkehrschluß: Nur fast jeder zweite. Die restlichen vierzig Prozent teilen sich auf verschiedene andere Demenz-Erkrankungen auf. In Deutschland aber, oder etwa den Niederlanden, ist die Bezeichnung Demenz noch vergleichsweise stark verbreitet. In den USA sowie im französischen und spanischen Sprachraum dagegen wird Alzheimer weit mehr als Synonym für alle Arten von Demenz benutzt. Der Grund ist, daß in diesen Ländern das Wort „dement“ oft mit „verrückt“ verbunden ist, weswegen es gern vermieden wird. Außerdem assoziieren viele Menschen mit Demenz einfach eine geistige Altersschwäche. Dagegen macht das Wort „Alzheimer“ deutlich, daß es sich um eine Erkrankung handelt.

Ihr Verband fordert, die Politik müsse weltweit auf die kommende Herausforderung reagieren. Wie?

Wortmann: Erstens mehr Geld in die Alzheimer-Forschung stecken! Es war sehr ermutigend, daß etwa in den USA Präsident Obama gerade das Budget dafür erhöht hat: nämlich auf fünfzig Millionen Dollar für 2012 und achtzig Millionen für 2013. Zweitens fordern wir, die Förderung eines gesunden Lebensstils der Bevölkerung zu intensivieren. Wie bei Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen Zigaretten, Alkohol und ungesunder Lebenswandel die Chance, an Alzheimer zu erkranken. Drittens: die Verbesserung der Versorgung der Kranken. Dazu fordern wir jede Regierung auf, einen nationalen Alzheimer-Plan zu erstellen. Deutschland hat erfreulicherweise unlängst in ein neues Forschungszentrum in Bonn investiert, das in Zukunft zu einem der Zentren der weltweiten Alzheimer-Forschung werden könnte. Außerdem hat Deutschland ein im internationalen Vergleich sehr gutes Pflegesystem.

Tatsächlich ist das deutsche Pflegesystem aber schon heute überlastet. Brauchen wir in Zukunft eine eigene Alzheimer-Versicherung, um die Kosten zu decken?

Wortmann: Das ist natürlich eine interessante Idee. Aber ich fürchte, am Ende könnten die Kosten dennoch höher sein, als die angesparten Summen. Ich glaube, der bessere und wohl auch billigere Ansatz ist, in Forschung und Prävention zu investieren und so zu verhindern, daß die richtig hohen Kosten später überhaupt entstehen.

 

Marc Wortmann ist Geschäftsführer der weltweiten Dachorganisation „Alzheimer‘s Disease International“ (ADI) , zu der auch die „Deutsche Alzheimer Gesellschaft“ gehört.

www.alz.co.uk

 

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