© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/12 05. Oktober 2012

Durch Mühsal zu den Sternen
Geschichtserzählung der „Erlebnisgeneration“: Paul Brandts autobiographischer Roman über ein typisches deutsches Schicksal im 20. Jahrhundert
Henning Hoffgaard

Es ist eine bewegte Zeit, in der sich Paul und Sigtrud auf einem Studentenfasching in den 1950er Jahren kennenlernen. In Ost-Berlin marschiert die Rote Armee auf und schießt den Aufstand demonstrierender Arbeiter nieder, ein neuer Weltkrieg auf deutschem Boden droht, während die Spuren des letzten noch lange nicht aus dem Alltag verschwunden sind. Europa an der Schwelle zu seinem Untergang. Kein Wunder, daß die Protagonisten in Paul Brandts autobiographischem Roman so einiges zu erzählen haben. Die rührende Geschichte der beiden Liebenden verläßt dabei schnell die Ebene des rein Privaten. Unverrückbar ist ihr Schicksal und das einer ganzen Generation mit dem Lauf der Geschichte verknüpft. Die Handlung ist deswegen ganz bewußt mit zahlreichen historischen Exkursen verknüpft, in denen der Autor, wie es im Buchtitel heißt, zum „Nachdenken über ein vergangenes Jahrhundert“ anregen will. Drei bis sieben Seiten sind die jeweils lang und greifen zum Teil weit über das 20. Jahrhundert zurück.

Eine „kleine Geschichte Preußens“ findet genauso ihren Platz wie der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71. Darin wird kenntnisreich mit dem Mythos der kriegslüsternen Deutschen aufgeräumt, die bis zum Ausbruch der beiden Weltkriege zu den friedlichsten Völkern des Kontinents gehörten. Von deutschem Boden gingen weit weniger Kriege aus, als Briten, Franzosen, Russen und selbst die bis dahin eher zurückhaltend agierenden Vereinigten Staaten zu verantworten hatten.

Besonders ergreifend werden die Ausflüge in die Vergangenheit jedoch, wenn sie das Leid der Deutschen während des Bombenkrieges und der Vertreibung schildern. Die Wut, die Panik und die Angst der Menschen angesichts der anrückenden Roten Armee sind für die nachgeborenen Generationen nur schwer vermittelbar. Brandt gelingt es, die Stimmung der Zeit einzufangen, ohne sich in besessene Schuldzuweisungen zu versteigen.

Ihm geht es um die Opfer der Deutschen. Opfer, die auch nach Kriegsende noch gefordert werden. Sei es die „Re-education“ oder die Trennung von Familien, Freunden während der Teilung Deutschlands. Zum Ende hin verstärkt Brandt die autobiographische Erzählperspektive. Paul und Sigtrud werden nun auch durch Fotos greifbar. Sie kämpfen mit Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Besatzung und berichten sich über die Nächte in den Kellern und Bunkern während der Bombardierungen durch die amerikanischen und britischen Bomberflotten. In diesen authentisch geschilderten Erlebnissen liegt die Stärke des Buches. Hier vereinigen sich die Erinnerungen einer ganzen Generation. Erinnerungen, die vielen Historikern nicht mehr wichtig oder glaubwürdig scheinen und die keinen Eingang mehr in die Seminare der Universitäten finden, weil sie nicht in das Konzept gängiger Geschichtsschreibung passen. Trotz aller Widrigkeiten finden Paul und Sigtrud schließlich zueinander. Ein versöhnliches Ende. Es paßt zum Buch.

Paul Brandt: Nachdenken über ein vergangenes Jahrhundert. Winterwork Verlag, Borsdorf 2011, broschiert, 480 Seiten, 18,95 Euro

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