© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Auf die Stabilität kommt es an
Wirklichkeit und Möglichkeit: Zum hundertsten Geburtstag des Soziologen Helmut Schelsky / Werk, Wirkung, Vermächtnis
Rainer Wassner

Mit dreißig Jahren erhält er einen Ruf an die neugegründete Reichsuniversität Straßburg; mit vierzig wird er Universitätsprofessor in Hamburg; mit fünfzig übernimmt er mit einem Ordinariat in Münster auch die Leitung der seinerzeit größten sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle Westeuropas in Dortmund, die er zur akademischen Kaderschmiede seines Faches ausbaut; mit sechzig gibt man ihm den ersten Soziologie-Lehrstuhl an der von ihm mit auf den Weg gebrachten Reformuniversität Bielefeld; mit 62 vollzieht er plötzlich die Kehre und bezeichnet sich als Anti-Soziologe, womit er gewaltigen Unmut bei den Kollegen auslöst; mit 66 emeritiert, wird es allmählich ruhig um ihn. Zum jetzigen 100. Geburtstag: Schweigen in und außerhalb der Zunft, von wenigen Ausnahmen abgesehen – wie zum Beispiel das gerade erschienene Buch von Volker Kempf (JF 33/12).

Das ist in Kürze die drehbuchreife Vita zu Aufstieg und Fall eines hervorragenden und angesehenen Gelehrten, der über Jahrzehnte der wichtigste, populärste und einflußreichste Soziologe der jungen Bundesrepublik war. Erfolge und Scheitern markieren seismographisch Brüche in der Geschichte unseres Landes.

1912 in Chemnitz geboren, in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, studierte er Philosophie in Leipzig, wo in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre unter anderen Hans Freyer, Arnold Gehlen und Theodor Litt seine Lehrer wurden. Gleichzeitig engagierte sich Schelsky in der politischen Jugendbewegung, trat 1931 dem NS-Studentenbund bei, 1937 sogar der Partei.

Gleichwohl findet sich in seinen Erstlingswerken über Fichte und Hobbes (Promotion und Habilitation) keinerlei ideologische oder verbale Anbiederung an den nationalsozialistischen Zeitgeist, der darauf reichlich Prämien ausgeteilt hätte. Der junge Philosoph folgte Gehlen als Assistent nach Königsberg, wurde 1941 an die Ostfront eingezogen und landete bei Kriegsende als Flüchtling in Flensburg – zuletzt saß er in Festungshaft wegen „Verächtlichmachung der Partei“.

Aus der Not der Stunde heraus baute er 1946 den Vermißten-Suchdienst des DRK an entscheidender Stelle mit auf, publizierte in einer badischen SPD-Zeitung und nahm 1949 die wissenschaftliche Laufbahn mit einer Soziologie-Dozentur an der gewerkschaftsnahen Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg wieder auf. Die Universitäten von Hamburg (1953) und Münster (1960) hießen die nächsten Stationen seiner Karriere.

In dieser Zeit suchte Schelsky nicht mehr philosophische Prinzipien des staatlich-gesellschaftlichen Lebens, sondern nach dessen konkreter Wirklichkeit. Von welchen Spannungen, Tendenzen und Kräften war die Nachkriegsgesellschaft bewegt? Es entstanden Untersuchungen zu nahezu allen relevanten Themen der Nachkriegszeit: Jugend und Familie, Arbeit und Berufsbildung, Eingliederung der Vertriebenen, Sexualität, Wissenschaft und Technik, Freizeit und Alter, soziale Schichtung, Religion und Kirche, Gesundheitswesen.

Schelsky wußte komplexe Befunde so auf einen Buchtitel zu bringen, daß sie schnell und dauerhaft ins öffentliche Bewußtsein drangen, wie „Die skeptische Generation“, „Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, „Einsamkeit und Freiheit“ (Universitätsgeschichte), „Auf der Suche nach Wirklichkeit“, „Berechtigung und Anmaßung der Managerherrschaft“ usw. Alle erreichten hohe Auflagezahlen und zahlreiche Übersetzungen, weil sie einem breiten Publikum Verstehensmuster anboten, in denen es sich mit seinen eigenen Erfahrungen wiederfand.

In heute kaum mehr vorstellbarem Maße wirkte Schelsky mit diesen Publikationen und mit seinen Vorträgen, als Herausgeber wissenschaftlicher Reihen und Jahrbücher und mit seiner Mitarbeit in Gremien, Ämtern, Stiftungen und, nicht zu vergessen, durch seine zahlreichen Examinanden in das öffentliche Leben der Bonner Republik hinein: Parteien, Verbände, die Sozialversicherung, die Wirtschaft, selbst Regierungskreise zogen ihn zu Rate. In den Sozialwissenschaften selbst blieben seine Arbeiten immer Gesprächsthema, doch nie unumstritten; gelegentlich wurden ihm gar Linkslastigkeit und Modernismus vorgeworfen.

Was bleibt? Schelskys Analysen können allerdings nicht einfach übernommen werden, zu sehr sind sie an die Konstellationen und Probleme der frühen Bundesrepublik mit ihren relativ homogenen und übersichtlichen Sozialstrukturen und kulturellen Verhältnissen gebunden. Der nachfolgende Werte- und Mentalitätswandel und die allgemeine Globalisierung haben die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ in eine Vielzahl von Lebenswelten, Milieus, Subkulturen und Parallelgesellschaften zersprengt.

Schelskys bleibende Bedeutung liegt deshalb primär in seinen Arbeitsrichtungen und Methoden. Eine seiner Basisfragen – die einer jeden echten Soziologie – war die nach der gesellschaftlichen Stabilität, die ihm durch die Institutionen gewährleistet schien. Sie bewahrten für Schelsky sowohl die überlieferten kollektiven Erfahrungen wie sie Spielräume für Innovationen eröffneten.

Helmut Schelsky meinte dabei immer die ganz konkreten Institutionen der Bundesrepublik: Familie, Staat, Gewaltenteilung, Wirtschaft, Kirchen, Sozial- und Bildungssysteme, und vor allem das Recht – die typisch legalistische Haltung des Liberalen. Aber reicht nach der 68er-Kulturrevolution das heutige „Institutionenethos“ (Gehlen) für das Gleichgewicht von Stabilität und Erneuerung noch aus? Wenn nicht, welche sozialen Instanzen treten an ihre Stelle?

Damit eng verbunden ist Schelskys Wirklichkeitsverständnis. Nicht die erwünschte, gesollte oder zu kritisierende Situation hat der Sozialforscher zu ermitteln, sondern die objektive Faktenlage. Seit Jahren jedoch werden Frageraster und Ergebnisdiskussionen der meisten Recherchen zunehmend von den Bedürfnissen und Zielen der politischen Korrektheit diktiert oder beeinflußt und spiegeln ein verzerrtes Bild der Realität wider. Zahlreiche Arbeitsfelder wären also im Schelskyschen Sinne neu zu beackern und die schon zur Routine gewordene Wirklichkeitsverleugnung zu überwinden.

In Bielefeld traf Schelsky die ganze Wucht der studentischen und linksintellektuellen Rebellion, so daß er sich verbittert 1973 nach Münster zurückversetzen ließ. Er verarbeitete die Vorgänge in mehreren Schriften („Die Arbeit tun die anderen“, „Der selbständige und der betreute Mensch“ und andere), in denen er nach den Intentionen der „Systemüberwinder“ fragte.

Er stieß auf eine Art neuen Klerus, konstituiert aus belehrenden, erziehenden, informierenden und heilsverkündenden Berufen, der sich Deutungshoheit über die soziale Wirklichkeit anmaße. Quasi-religiös sei seine Botschaft, weil sie Rationalität selbst zu einem Glaubensinhalt umwerte. Mittels Sprachmanipulationen (Anklänge an Orwell sind hier unübersehbar) würden sich die neuen „Priester“ als Retter einer schlechten Welt empfehlen und Meinungsabweichler erst moralisch, dann sozial und schließlich materiell diskreditieren. Ihre Weltanschauung kenne keinen frei gestaltenden Menschen mehr, nur ein durch die gesellschaftlichen Umstände gefesseltes Wesen, das – natürlich – lebenslang ihrer „Beplanung“ und Unterrichtung bedürfe. Soziologische Aufklärung verkehre sich so in Gegenaufklärung.

Mit diesen Alterswerken provozierte Schelsky überwiegend empörte, ja aggressive Reaktionen; schmerzhaft mußte es für ihn sein, daß nun selbst ehemalige Schüler, denen er zu akademischen Ämtern verholfen hatte, sich polemisch gegen ihn wandten. Daß diese am Ende obsiegten, obschon die Bücher sich massenweise verkauften, kann als ein erster Beleg für die Richtigkeit von Schelskys Thesen des neuen geistigen Herrschaftsmonopols einer bestimmten sozialen Gruppe gesehen werden.

Um bei der Aktualität zu bleiben: Wer immer heute in irgendeiner Art und Weise ideologiekritisch der Intelligenz kritisch auf die Finger schaut – deren Binnenstrukturen sich im Zuge der Veränderungen der medialen Landschaft seit damals natürlich verändert haben –, für den hat Helmut Schelsky nicht umsonst gelebt.

Resigniert zog sich Schelsky nach seiner Emeritierung 1978 in sein Altersdomizil im österreichischen Burgenland zurück, wo er 1984 verstarb.

Schelskys Lebensaufgabe bleibt virulent: das Verhältnis von gesellschaftlicher Wirklichkeit zur Möglichkeit erfahrungswissenschaftlich auszubalancieren, dem ethisch ein maßvolles Handeln in Verantwortung entspricht, anstatt blind Gesinnungen zu folgen.

 

Dr. Rainer Waßner, Jahrgang 1944, nach kaufmännischer Berufstätigkeit Studium der Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Ethnologie und Philosophie in Hamburg. Von 1977 bis 2002 war er Wissenschaftlicher Angestellter und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. Seitdem freier Publizist im Bereich Religion, Literatur und Gesellschaft.

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