© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Draußen vor der Tür
Der Hamburger Germanist Dirk Hempel hat die Tagebücher Walter Kempowskis von dessen Haftentlassung 1956 bis zu seinen ersten schriftstellerischen Erfolgen 1970 herausgegeben.
Thorsten Hinz

Anfang März 1956 wird der 26jährige Walter Kempowski nach achtjähriger Haft aus dem Zuchthaus Bautzen entlassen. Vorfristig, denn laut dem Urteil eines sowjetischen Militärtribunals von 1948 sollte er wegen angeblicher Spionage bis 1973 einsitzen. Er fährt nach Hamburg, wo ihn seine Mutter erwartet, die bis 1953 gleichfalls im Zuchthaus war. Für den älteren Bruder Robert werden die Gefängnistore sich einige Monate später öffnen. Der Vater ist 1945 in Ostpreußen gefallen. Der Familienhaushalt in Rostock ist beschlagnahmt und versteigert worden.

Man kann nur staunen, mit wieviel Energie der schmächtige Kempowski dem Schicksal trotzt. Ein kurzer Aufenthalt am Bodensee muß zur Erholung genügen. Dann holt er das Abitur nach, absolviert ein Lehrerstudium, wird Lehrer in einer Dorfschule, gründet eine Familie und beginnt nebenher seine schriftstellerische Arbeit. 1969, da ist er 40, erscheint sein erstes Buch, der Haftbericht „Im Block“.

Gleich nach der Entlassung hat er seine Gewohnheit wiederaufgenommen, Tagebuch zu führen. Parallel dazu hält er in Notizbüchern fest, was ihm für literarische Projekte, die er von Anfang an hegt, einem weiteren „Nachhaken“ für wert erscheint. Er trägt Familienerinnerungen zusammen, die später in seine Romane eingehen. Unverkennbar ist der Versuch, die zerstörte Familie schreibend wieder zusammenzufügen. Die Auszüge aus den Tagebüchern werden durch Briefe – verfaßte und erhaltene – ergänzt.

Ungeheuer ist die Disziplin, mit der Kempowski seine Erschütterung und die Alpträume bezwingt, die ihn nächs-tens einholen. Sie zeigt sich auch in der Akkuratesse, mit der er seine Ausgaben und Einnahmen gegenüberstellt. Böse Zungen mögen Pedanterie nennen, was in Wahrheit ein Triumph der Bürgerlichkeit ist. Dazu gehört eben, keinem auf der Tasche zu liegen und sich nicht in irgendwelche Abhängigkeiten zu begeben. Die bürgerliche Haltung bildet das Korsett, ihn die Schicksalsschläge aushalten läßt und befähigt, aus seinem Trauma ein großes Werk zu formen.

Es geht Kempowski in Westdeutschland wie dem Kriegsheimkehrer Beckmann aus Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“: Niemand will seine Geschichte hören, fühlt sich für sie zuständig. Kaum angekommen, bemerkt er, daß Bautzen-Häftlinge bei Organisationen wie dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) nicht gern gesehen sind. Das Buch handelt damit auch von der früh einsetzenden deutschen Teilung, noch mehr von der mentalen als von der politischen.

Der jahrelange Rechtsstreit um die Anerkennung als politischer Häftling geht verloren. Der Flüchtlingsausweis und die damit verbundenen Vergünstigungen – von Wiedergutmachung gar nicht zu reden – bleiben ihm verwehrt. Den Amtsarzt, der ihn untersucht, weist er zurecht, in Bautzen sei man freundlicher mit ihm umgegangen. Als er kurzzeitig in eine Nervenkrise gerät, wird er mit einem „Döschen Tabletten“ abgespeist. Seine Herkunft – er ist Sohn eines Reeders –  sät Mißtrauen bei der SPD. Der dänische Schwager erklärt ihm kaltschnäuzig, daß sein Leiden in Bautzen wenig zählt gegenüber dem der NS-Opfer.

Die Ahnungslosigkeit betrifft nicht nur die Westdeutschen. Sein Lektor Fritz J. Raddatz, der erst 1958 aus der DDR geflohen ist, fragt ihn allen Ernstes, warum er den Russen nach seiner Verhaftung denn nicht einfach „die Wahrheit“ gesagt habe. Kempowski findet das nicht nur naiv, sondern sieht darin den „Beweis für die auch im politischen Raum katastrophale Verkennung der Russen in der durch Raddatz vertretenen linksradikalen Strömung“. Nicht bloß räumlich ist Kempowski, der in der niedersächsischen Provinz seinem Broterwerb nachgeht, von der literarischen Szene und der sie beherrschenden Gruppe 47 isoliert, auch habituell und politisch.

Hinzu kommt die schwelende Familientragödie: Er fühlt sich schuldig, weil er glaubt, die Verhaftung von Mutter und Bruder verursacht zu haben. Die Verwandtschaft läßt ihn spüren, daß sie das genau denkt! Die Mutter wirft ihm überdies den Kummer des Bruders vor: „Ich bin schuld, daß er keine Frau bekommt, daß er beruflich keine Chancen mehr hat, daß er sich unglücklich fühlt.“ Im Jahr 2005 hat Kempowski eine nachträgliche Erkenntnis hinzugefügt: Nicht er, sondern der Bruder hatte die Katastrophe heraufbeschworen und sofort nach seiner Verhaftung die Angehörigen belastet. Das hat er stets konsequent verschwiegen! Als Kempowski seiner Verlobten und späteren Frau Hildegard von der Haftzeit zu erzählen beginnt, bricht sie in Tränen aus, so daß er resigniert notiert, sein Gepäck sei für andere eben zu schwer.

Früh kündigt sich der ironische Nörgler-Ton an, der den unnachahmlichen Reiz seiner später veröffentlichten Tagebücher ausmacht. Kempowski spottet – vor 50 Jahren! – über die beschworene „Einigung Europas“, denn in Wahrheit gehe es um Egoismus und „leicht angekitschte Jugendträume“. Die „Feminisierung der Kirche“ identifiziert er als einen der Gründe für „ihre jetzige Fadheit“. Andererseits empfindet er 1968 das Auftreten von Rainer Langhans und Fritz Teufel als „wohltuend“. Eines der letzten Dokumente ist der Brief vom Dezember 1969, mit dem der Chef des Rowohlt-Verlags das Manuskript „Im Sturm“ ablehnt: Es gebe schon genug Romane über das Dritte Reich. Ein millionenschwerer Irrtum! Unter dem Titel „Tadellöser & Wolff“ erscheint das Manuskript 1971 bei Hanser. Es wird für Kempowski der literarische Durchbruch und ein kommerzieller Erfolg.

Der Leser kommt in den Tagebüchern auf seine Kosten, vermißt jedoch den Anmerkungsapparat. Nicht jeder ist schließlich ein Kempowski-Kenner. Das komprimierte Nachwort von Herausgeber Dirk Hempel kann die fehlenden Erläuterungen zu Personen, Ereignissen und biographischen Einzelheiten nicht ersetzen.

Dirk Hempel (Hrsg.): Walter Kempowski.     Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956–1970.       Albrecht Knaus Verlag, München 2012, gebunden,  624 Seiten, Abbildungen, 29,99 Euro

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