© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Wenn Lehre zur Tragödie wird
Ursula Sarrazin ist im Berliner Schulsystem gescheitert. Ihre Abrechnung offenbart nicht nur die Wut einer Pädagögin, sondern weist auf viele Schwachstellen unseres ganzen Bildungssystems hin.
Ellen Kositza

Wenn einer „aus der Rolle“ gefallen sei, habe es „einen Klaps“ gegeben. Dies, obwohl sich die – über ihren Mann – prominente Lehrerin bewußt war, daß körperliche Züchtigung verboten ist. Daß die Klientel, also Schüler und ihre Eltern, sich heute gründlich mit ihren Rechten auskennten, die Pflichten aber außen vor ließen, sei symptomatisch für die Atmosphäre in Schulen. Die Lehrerin hieß Loki Schmidt. Niemand hätte gewagt, sie bösartiger Lehrmethoden zu bezichtigen, im Gegenteil: Ihr Bekenntnis zum autoritativen Erziehungsstil hatte ihr noch 2005 zu einer Ratgeberserie in der Bild-Zeitung verholfen.

Ein anderer SPD-Politiker, wiederum eine engagierte – nie handgreifliche – Ehefrau im Lehramt: Damit wären wir bei Ursula Sarrazin. Sie hat ein Buch über ihre Lehrtätigkeit an zwei Grundschulen in Berlin veröffentlicht. Es ist eine Abrechnung, eine wutschnaubende.

Wir erinnern uns: Seit 2008 gab es Medienberichte über Frau Sarrazin, die sie als allzu gestrenge Lehrerin brandmarkten. Da war ihr Gatte Thilo Sarrazin schon einige Jahre Finanzsenator in Berlin. Bald hatte der SPD-Mann seinen definitiven Ruf als „harter Knochen“ weg. Damals hatte er rigide Lebensratschläge an Hartz-IV-Empfänger ausgeteilt und sich dadurch allerlei Antipathien zugezogen. Der öffentliche Unmut über Frau Sarrazins Lehrtätigkeit eskalierte, nachdem ihr Ehemann 2009 Lettre International sein berüchtigtes Interview gab und im Folgejahr den streitbaren Verkaufsschlager „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlicht hatte. Es wäre leicht – und ist es nicht offenkundig? – die Medienhetze gegen den nüchternen Mahner Sarrazin mit den Vorfällen um seine Frau zu parallelisieren. Ursula Sarrazin sieht davon weitgehend ab. Ist das naiv? Oder sollte man anerkennen: Hier steht eine ihre Frau, betrachtet sich nicht als Anhängsel, das unversehens und ungerecht in den Rummel hineingezogen wurde, den ihr Mann verursacht hat?

Die heute 61jährige Grundschullehrerin – seit 1973 im Schuldienst – erzählt ihre eigene Geschichte. Sie läßt sie mit ihrem Dienstantritt 1999 in einer Berliner Montessori-Schule beginnen. Dort kam sie schwer zurecht; eine Erfahrung, die ihr bislang fremd war. Sie legte aufgegebene Referate so an, daß es nicht möglich war, aus dem Internet abzuschreiben, sie gab gute Noten nur für gute Leistung und legte Wert darauf, daß auch begabte Kinder sich anstrengen müssen. Einigen Eltern mißfiel das, sie hatten sich gerade von einer Montessori-Schule – in Unkenntnis der ursprünglichen Montessoripraxis – einen weicheren Lehrstil erhofft. Es grummelte, es gab (Schein-)Abmeldungen aus Protest.

Als Frau Sarrazins Weggang feststand, meldete eine kinderreiche Familie ebenfalls ihre Kinder ab – wegen des Umgangs mit der Frau, die sie als Lehrkraft schätzten. Mit dem Wechsel an die Reinhold-Otto-Schule fand sich die resolute Lehrerin nach dem sprichwörtlichen Regen in der Traufe wieder. Minutiös listet die Autorin auf, welche Vorwürfe im Laufe der dort verbrachten neun Jahre gegen sie erhoben wurden und welchen Schikanen von (oft gut vernetzten) Eltern, von Schulleitung und -aufsicht sie sich ausgesetzt sah. Briefwechsel, E-Mails, Gesprächsnotizen – Frau Sarrazin hat alles akribisch dokumentiert.

Aufgezeigt wird, wie es zu Anwürfen kommen konnte, die Lehrerin habe eine Mutter (deren Kind beim Elternabend fortgesetzt quäkte) und einen Schüler mit schwierigem Namen „rassistisch“ diskriminiert, wie es heißen konnte, Frau Sarrazin habe nach einem Schüler geschlagen und einen anderen als „Opfer“ tituliert. Es kostet einige Anstrengung, all diese öffentlichen und Privatfehden lesend nachzuvollziehen. Wir haben hier eine Frau, die ihre pädagogische Verantwortung bitterernst nimmt und für Kompromisse, die bekanntlich den Geruch der Faulheit in sich tragen, nicht im mindesten zu haben ist. Bildungspolitisch frustrierte Eltern dürften gerade ihre Einlassungen zum Unfug der flexiblen Schuleingangsphase und zum jahrgangsübergreifenden Lernen dankbar aufgreifen!

Welchem Genre läßt sich Ursula Sarrazins Buch „Hexenjagd. Mein Schuldienst in Berlin“ zuordnen? Es ist kein Sachbuch, keine (Teil-)Autobiographie, kein Tagebuch. Es ist eine moderne Tragödie. Die klassische Tragödie schildert den schicksalhaften Konflikt ihres Protagonisten. Sein Scheitern ist aufgrund seines Charakters und der gesamten Konstellation unausweichlich, dennoch versucht er bis zu seiner Niederlage seinem Schicksal entgegenzuwirken. Zugleich erinnert Frau Sarrazins Report von der Berliner Grundschulfront an eine berühmte Novelle, die Heinrich von Kleist vor 200 Jahren veröffentlichte. Die geschaßte, neudeutsch: gemobbte Grundschullehrerin ist eine Michaela Kohlhaas. Ihre Geschichte ist tragisch, mancher mag sich über ihre Sturheit wundern. Und doch: Hätten wir Lehrer vom Format Ursula Sarrazins tausendfach, unsere Bildungslandschaft stünde anders da. Gewiß nicht schlechter.

 

Ursula Sarrazin: Hexenjagd. Mein Schuldienst in Berlin. Diederichs Verlag, München 2012, gebunden, 288 Seiten,        17,99 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen