© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Den Bürgen sollst du würgen
Die Staatsverschuldung ist eine ständige Rechtsverletzung. Paul Kirchhof klagt über die gerade in der Euro-Krise um sich greifende Schuldenpolitik, für die der Bürger letztlich bitter zu bezahlen hat.
Klaus Peter Krause

Der Bürger ist nicht nur Bürger, sondern auch Bürge – Bürge für seinen Staat, für dessen Schulden. Der Staat hat ihn dazu gemacht, über die Jahrzehnte immer mehr, denn die Schulden sind gestiegen und gestiegen, deutlich stärker als die Staatseinnahmen. Aber der Bürger hat es mit sich geschehen lassen. Weil das so gut funktioniert, rutscht der Staat in die Überschuldung. So schlecht steht es jetzt in vielen Staaten, auch in Deutschland. Nun wird der Bürger als Bürge erst recht in Anspruch genommen. Wie kommt er da heraus? Der Rechts- und Finanzwissenschaftler Paul Kirchhof beschreibt, wie es ginge. Kirchhof nennt es den „Weg vom Bürgen zurück zum Bürger“. So lautet der Untertitel seines neuen Buches.

Kirchhof holt weit aus, bis er im letzten Buchviertel dem Leser schließlich den Weg vom Bürgen zum Bürger weist. Doch immer deutet sich dieser mit vielen Überlegungen und Bemerkungen schon an. Im ersten Abschnitt „Übermäßige Staatsverschuldung“ finden sich der Krisenbefund und die Rechtfertigungslehren zur Staatsverschuldung. Beschrieben werden dann die Folgen des Übermaßes und die Leistungsfähigkeit des Rechts. Der zweite Abschnitt befaßt sich mit der „Verbindlichkeit des Rechts“ und behandelt unter anderem die Verletzung der Kreditschranken im deutschen Grundgesetz und die der europarechtlichen Kreditschranken. Die Staatsverschuldung sieht Kirchhof als „stetige Rechtsverletzung“.

Im dritten Abschnitt geht es in zehn Kapiteln um das „Vermeiden neuer Schulden“. Hier äußert sich Kirchhof unter anderem zum neuen Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (zustimmend), zum ESM-Vertrag (kritisch), zum Fiskalvertrag (bedenklich) und zur konjunkturbedingten Kreditaufnahme (enttäuscht). Für die Familienpolitik schlägt er sechs Neuerungen vor, weil nachhaltiges Wirtschaftswachstum nur durch die Kindergeneration geschehe. Andere Stichworte sind Abschirmen des Staatshaushalts gegen fremden Zugriff, Aufgaben der öffentlichen Hand, die Rechtspflicht zum Subventionsabbau, der Finanzausgleich. Der Patient Staat, so schreibt Kirchhof am Ende des zehnten Kapitels, sei „chronisch verschuldungsgeneigt, aber heilbar“. Heilung jedoch verspreche „allein eine organische Erneuerung des Staates“. So böten die drückenden Schulden „die Chance, den Staat konzeptionell zu erneuern“.

Wie können die drückenden Schulden abgebaut werden? Kirchhof nennt es im Vorwort „Lösungsvorschläge“. Gewiß, es sind Vorschläge, aber erteilt werden sie mit juristischer Strenge, mit einer apodiktischen Sprache. Das ist nicht mißbilligend gemeint. Die klare und elegante Diktion gefällt. Die durchweg knappen Sätze haben ihren Vorzug. Sie machen, was Kirchhof meint und will, unmißverständlich. Sie sind frei von der sonst so häufigen Weichspülerei, die sich nicht festlegen will und Eindeutiges meidet.

Abzutragen sei die gewaltige Schuldenlast nur durch Sondermaßnahmen. Der Bürger müsse sich von der Vorstellung verabschieden, der Staat sei zu stetig wachsenden Leistungen bereit. Der wichtigste Schritt: auf Neuverschuldung verzichten, kein Haften und Einstehen für Verbindlichkeiten anderer Staaten (grundsätzlich), ferner alle Mehreinnahmen in den Staatshaushalten für die Entschuldung reservieren, Subventionen zurückfahren (wozu das geltende Recht ohnehin verpflichte), die Gläubiger des Staates an der Sanierung beteiligen (Umschuldung), die Einnahmen aus der Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer („Solidaritätszuschlag“) und der Erbschaftssteuer umwidmen für den Schuldenabbau. Eine Schuldentilgung durch Inflation weist Kirchhof als rechtsverletzend zurück. Ausdrücklich plädiert er für eine Finanztransaktionssteuer. Eine einmalige Vermögensabgabe lehnt er ab.

Stets pocht er bei allem auf „die Herrschaft des Rechts“, ein Handeln nach „Kriterien des ökonomisch Möglichen“ lehnt er entschieden ab. Wenn der Staat trotzdem nach solchen Kriterien handeln müsse, weil das Übermaß der Verschuldung so bedrohlich sei, hätten Rechtsstaat und Europäische Rechtsgemeinschaft „alle Anstrengungen zu unternehmen, die Staatssanierung auf den Weg des Rechts zurückzuführen“. Es gelte nicht das Prinzip „Not kennt kein Gebot“. Die Krise im Euro-Raum sei kein einmaliges historisches Ereignis, sondern ein durch Rechtsverletzungen entstandener, in kollektiver Illegalität verstetigter Prozeß. „Auch die europäische Staatsschuldenkrise rechtfertigt derzeit keine einmalige Vermögensabgabe.“

Im Kirchhof-Buch geht es um Rechte und Pflichten des Staates: Was darf er, was darf er nicht? Was muß er, was muß er nicht? Wenn Kirchhof den Rechtsrahmen beschreibt, entfaltet sich gleichsam eine heile Welt: Gesetzlich ist alles abgesichert gegen Verschwendung, Überschuldung, direkten Kauf von Schuldtiteln durch die Zentralbank, Haften für anderer Staaten Schulden. Juristisch ist alles klar, sachlich alles zwingend. Doch die reale, die politische Welt ist anders: Gegen alle diese Verbote wird verstoßen. So geistreich und klug, so glänzend und geschliffen die Darbietung ist, sie liegt neben der politischen Realität, ist idealistisch, wirkt träumerisch – aber auf sehr sympathische Weise: So müßte, so sollte, so könnte alles sein, was realiter aber so leider nicht ist.

Paul Kirchhof: Deutschland im Schuldensog. Der Weg vom Bürgen zurück zum Bürger. Verlag C.H. Beck, München 2012, gebunden, 309 Seiten, Abbildungen, 19,95 Euro, Foto: Finanzexperte Paul Kirchhof mahnt zur Umkehr: Juristisch ist alles klar, sachlich alles zwingend

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