© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/12 19. Oktober 2012

Denker der Differenz
Lebenserinnerungen: Der französische Philosoph und JF-Autor Alain de Benoist hat seine lang erwartete Autobiographie vorgelegt
Karlheinz Weissmann

Der Satz, daß Bücher ihr Schicksal haben, gilt natürlich auch in dem Sinn, daß manche Bücher, mit deren Entstehung niemand rechnete, weil der potentielle Autor ihre Niederschrift ablehnte etwa, dann doch verfaßt und publiziert werden. So verhält es sich mit der „Mémoire vive“ von Alain de Benoist, der eigentlich immer betont hatte, keine Autobiographie schreiben zu wollen, dann aber doch von dem französischen Politikwissenschaftler François Bousquet überzeugt wurde und in einem Interviewband (mit sehr kurzen Fragen und sehr langen Antworten) seinen Lebensweg für die Öffentlichkeit dargelegt hat.

Es handelt sich um den Lebensweg eines „engagierten Intellektuellen“ – eine Bezeichnung, die Benoist selbst vorschlägt –, dessen äußeres Dasein im wesentlichen unspektakulär verlief. Die ganze zweite Hälfte des Bandes enthält deshalb auch einen Abriß der „Weltanschauung“ Benoists, von ihren mehr oder weniger konventionellen Ursprüngen über die Phase der Infragestellung und Umprägung bis zu ihrer „neurechten“ Ausgestaltung und deren Metamorphosen seit den 1990er Jahren.

Man kann das, was da ausgeführt wird, über die jugendliche Kritik des Christentums, eines sehr katholischen und in vielem sehr naiven Katholizismus, den Eindruck der Lektüre Nietzsches, die Faszination durch das Deutsche und Germanische wie die antike Welt des Mittelmeers, die Entdeckung der Psychologie und des Logischen Empirismus, der Konservativen Revolution und des Nominalismus und dann die Entwicklung einer selbständigen – wenn man so will: phänomenologischen – Position aber nur richtig verstehen, wenn man die Darstellung von Herkunft und Werdegang im ersten Teil des Buches aufmerksam gelesen hat.

Obwohl Benoist zustimmend den Satz zititert, den Heidegger im Hinblick auf seine Ausführungen über Aristoteles formulierte („Wir werden über das Leben und das Werk des Aristoteles sprechen. Zuerst sein Leben: Aristoteles wurde geboren, hat gelebt und ist gestorben. Und nun, sprechen wir über sein Werk.“), ist es dann doch so, daß ein sachgerechtes Verständnis seiner Ideen und Denkmotive nur möglich ist, wenn man den biographischen Hintergrund in Rechnung stellt.

In bezug auf die Herkunft Benoists erscheint vor allem zweierlei bedeutsam: daß er aus einer Ehe hervorging, in der sich „Aristokratie“ (von Vaters Seite) und „Volk“ (von Mutters Seite) verbanden, daß seine Vorfahren den Grenzgebieten des „Hexagons“ entstammten (vor allem Flandern und der Normandie) und daß keine der üblichen familiären Prägungen eine Rolle spielten, die sonst für die Vertreter der französischen Rechten dieser Zeit ausschlaggebend waren; weder gehörten seine Leute in das Lager des katholischen Royalismus noch in das der Geschlagenen von 1944. Überhaupt spielte die Politik bei den Benoists kaum eine Rolle, man war mehr oder weniger gaullistisch in den Turbulenzen der Vierten Republik, hielt sich aber mit deutlichen Parteinahmen zurück.

Das fiel dem jungen Benoist um so schwerer, als er zwar fast seine ganze Zeit mit Lesen verbrachte, aber gleichzeitig von der fiebrigen Atmosphäre der späten fünfziger Jahre erfaßt wurde. Die Politisierung der französischen Schüler- und Studentenschaft erreichte damals angesichts der Auseinandersetzung um den Algerienkrieg ihren Höhepunkt. Der Einfluß der sozialistischen wie der kommunistischen Linken an den Gymnasien und Universitäten war groß, und es erscheint durchaus plausibel, wenn Benoist berichtet, daß ihn deren Milieu sehr angezogen habe. Dabei spielte ein antibürgerlicher Affekt eine wichtige Rolle, der ihn zuletzt aber auf die Gegenseite führte.

In den Reihen der nationalistischen Kleinparteien hat Benoist aber nur ein kurzes Gastspiel gegeben, dann wandte er sich einer Tätigkeit zu, die ihm näherlag: Er organisierte mit Gesinnungsfreunden eine Art pressure group, die Fédération des Etudiants Nationalistes (FEN) und er begann seine publizistische Tätigkeit.

Wie diese Prozesse im einzelnen abgelaufen sind, wird in „Mémoire vive“ eigentlich zum ersten Mal ausführlicher und plausibel dargestellt. Ins Zentrum rückt Benoist dabei die Rolle Dominique Venners, der nicht nur als Freiwilliger nach Algerien gegangen war und sich dann dem nationalistischen Untergrund angeschlossen hatte, sondern auch eine Gefängnisstrafe verbüßen mußte und in vielem jenen Typus des „Männerhelden“ (Hans Blüher) verkörperte, der die Jüngeren in seinen Bann zieht.

Entscheidend wirkte dabei, daß Venner nach seiner Entlassung aus der Haft eine nationalistische Selbstkritik schrieb, die außerordentliche Wirkung haben sollte und vor allem dazu führte, daß sich eine junge Rechte als Dissidenz der alten um die Zeitschrift Europe Action zu sammeln begann. Was man hier als „europäischen Nationalismus“ propagierte, wird von Benoist heute zwar kritisch gesehen, aber doch gleichzeitig betont, wie prägend die Jahre des Aktivismus für ihn waren. Die Einheit oder „Totalität“ wie Benoist an einer Stelle sagt, die Militanz und Theorie bildeten, betrachtete er jedenfalls auch dann noch als maßgeblich, als das Projekt scheiterte, Venner sich aus der Politik zurückzog und die Bewegung nach und nach zerfiel.

Es gab dafür verschiedene Gründe, nicht zuletzt biographische, da die Schüler und Studenten mittlerweile ihre Ausbildung beendeten. Dasselbe galt für Benoist nicht, der in seltener Konsequenz jedes Examen als Unterwerfung unter das „Regime“ ablehnte und die Universität ohne formale Qualifikation verließ.

Das hat ihn selbstverständlich nicht gehindert, die Beschäftigung mit der Materie der von ihm belegten Fächer (Philosophie, Psychologie, Religionswissenschaften, Recht) fortzusetzen, ganz im Gegenteil. Vielmehr verdichtete sich in ihm seit dem Ende von Europe Action der Plan, neben der Lohnarbeit als Journalist eine Zeitschrift aufzubauen, deren Ziel es sein sollte, eine „neue Schule“, heißt: Denkschule, zu schaffen, die die intellektuelle Basis für eine „neue Kultur“ bilden würde.

Die erste Ausgabe von Nouvelle Ecole wurde im Herbst 1967 konzipiert und bis heute sind mehr als fünfzig Nummern erschienen. Von der Aggressivität der frühen Zeiten ist nur gelegentlich noch etwas zu spüren, und auch in „Mémoire vive“ erscheint die Darstellung der damals verfochtenen Thesen – von der Generalkritik des christlichen Glaubens bis zur Ablehnung der Westbindung, von der Biopolitik bis zur bleibenden Bedeutung der „dreiteiligen Ideologie“ der Indoeuropäer – gelegentlich etwas irenisch. Das hat aber auch mit einem Wandel des Zeitgeistes zu tun, der, verblüffenderweise muß man sagen, den Vorstellungen dieser „neuen Rechten“ in manchem entgegenkam.

Das gilt aber nur insoweit, als die Kernidee Benoists, das, was man seinen „Differentialismus“ nennen könnte, nicht berührt ist. Der – französischen – Linken mögen seine Attacken auf die USA und seine Gelassenheit gegenüber der konservativen Kulturkritik sympathisch sein, die Zurückweisung der Menschenrechtsideologie und des Egalitarismus sind es nicht. Man kann an diesen beiden Punkten wohl am deutlichsten sehen, inwiefern Benoist, trotz seiner Sympathie für manche Position der Gegenseite und für „dritte Wege / Parteien / Fronten“ bis heute eine genuin rechte Auffassung der Dinge vertritt.

Aber selbstverständlich ist damit nicht alles gesagt, ganz im Gegenteil, was wiederum kaum verwundern darf bei einem Mann, der in den fast siebzig Jahren seines Lebens so viele Bücher gelesen und so viele Bücher geschrieben hat.

Alain die Benoist: Mémoire vive. Editions de Fallois, Paris 2012, gebunden, 330 Seiten, 21,99 Euro

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