© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/12 19. Oktober 2012

Der Flaneur
Müde von der Bahnfahrt
Ellen Kositza

Ich habe sieben Kinder. Sie alle sind erfahrene Bahnreisende. Ich kenne das Prozedere in- und auswendig: Daß die Toiletten gesperrt sind. Daß ohne Reservierung keiner einen Platz freigibt. Daß man sich besser vorsorglich entschuldigt, wenn ein Patschehändchen Halt sucht an einem gebügelten Hosenbein. Daß man prophylaktisch verständnisheischend in die Umgebung lächelt. Und die Kinder wissen, daß ihr Benimm auf Bahnreisen nur um Grade abweichen darf von sonntäglichen Sitten, von Gottesdienst und Konzertbesuch. Ich weiß, daß alle gucken, manche kritisch, andere aufmunternd.

Allein bin ich selten unterwegs. Manchmal eben doch. Ich sitze allein an einem Vierertisch. Eine Mutter steigt ein, älteres Semester, zwei Kinder, Buggy und Tragegestell. Ihr Ton ist die Bühnenstimme: Klar, daß sie vor Publikum spricht. „Leander, halloo? Ich finde es nicht okay, daß du deine Klamotten auf den Boden wirfst!“

Ich habe meine Zeitungen zusammengerafft und den Tisch freigeräumt. Nicht schlimm, daß der Bio-Joghurt auf dem Papierstapel landet. Hab ich schon gelesen. Klar, ich gebe den Fensterplatz gerne her. Stehe auch viermal wieder auf, wenn Leander zum Gang drängt. Kinder und Bewegungsdrang, verstehe schon. Beine einziehen, weil das Tragegestell einen Platz finden muß? Kein Thema. Das Baby schreit unentwegt, Leander heischt um Aufmerksamkeit und turnt auf meinem Schoß – geht schon, eine Art Vorführeffekt, bestimmt hat die Mutter es sonst im Griff. Bald hockt er wieder am Fenster, ich greife nach der kleckerfreien Restzeitung. Leander geht dazwischen. Freundlich tituliere ich ihn einen Rabauken und verweise ihn auf das Panorama draußen: „Guck mal, die Sonne geht unter! Und der Leander ist auch ganz müde!“

Da erhebt die Mutter ihre Stimme über das Säuglingsgeschrei: „Ihre Genervtheit brauchen Sie nicht scheinheilig zu verbergen! So ist unser Land – kinderfeindlich! Braucht sich keiner zu wundern, daß die Leute keine Kinder mehr kriegen!“ So ist es wohl, so ähnlich jedenfalls, denke ich, müde wie die Sonne da draußen.

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