© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

„Erstarrt und autistisch“
Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart: Nach der erneuten Niederlage in einer Großstadt sucht die CDU-Spitze nach den Ursachen
Christian Schreiber

Nach der Wahlniederlage des von CDU, FDP und Freien Wählern unterstützten Kandidaten Sebastian Turner bei der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl am vergangenen Sonntag ist innerhalb der Union eine heftige Debatte um den Kurs der Partei entbrannt. Turner unterlag in der Stichwahl dem Grünen-Kandidaten Fritz Kuhn recht deutlich und kam auf rund 45 Prozent der Stimmen. Nach dem Debakel bei der Oberbürgermeisterwahl in Frankfurt am Main vor wenigen Wochen ist dies die zweite bittere Pleite, die die CDU schlucken muß. Sie regiert damit in keiner der vier bundesdeutschen Millionenstädte mehr, von den zwölf größten Metropolen ist sie lediglich noch in Düsseldorf und in Dresden an der Macht.

Der Landesvorsitzende von Baden-Württemberg, Thomas Strobl, sieht im Stuttgarter Ergebnis ein generelles Problem. „Die großen Städte sind für die CDU insgesamt ein schwieriges Pflaster geworden“, sagte er der Welt: „Wir tun uns im Moment schwer, das Lebensgefühl der Menschen dort zu treffen.“ CDU-Chefin Angela Merkel räumte in einer Sitzung des Parteivorstands Probleme der Union in Großstädten ein, ohne allerdings Lösungsvorschläge zu präsentieren. Sie verwies darauf, daß es in Stuttgart schon länger eine linke Mehrheit gegeben habe. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sagte, es bleibe eine Herausforderung, Wähler in Großstädten stärker anzusprechen. Nötig seien auch „eindrucksvolle Persönlichkeiten“ wie die langjährige Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth. Der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) forderte Antworten auf die „Akademisierung der Stadtgesellschaft“.

Die Partei hat schon mehrfach – und offenbar erfolglos – Arbeitsgruppen zur Großstadtpolitik eingesetzt. 2004 urteilte eine Parteikommission: Die CDU wirke in Großstädten erstarrt und „tendenziell autistisch“. „Das Wahlergebnis in Stuttgart ist ein weiteres alarmierendes Signal für die Union und zeigt, daß wir es noch nicht geschafft haben, die Probleme und Sorgen der Menschen in großen Städten anzusprechen. Wir müssen Antworten auf Fragen zu Kinderbetreuung, Wohnungsmangel, Kunst und Kultur sowie zur zunehmenden Akademisierung der Stadtgesellschaft, vor allem in den Universitätsstädten, finden und diese stärker kommunizieren“, forderte der RCDS-Vorsitzende Erik Bertram. Die Kanzlerin scheint diese Einschätzung zu teilen. Sie habe den Eindruck, daß die Partei dort teils vom Lebensgefühl her bestimmte Dinge nicht wahrnehme, sagte sie. Dies gelte etwa für vermeintlich „weiche“ Themen wie Umweltschutz oder gesunde Ernährung.

Während bei der Union der Katzenjammer groß ist, floß bei den Grünen der Sekt in Strömen. Nach dem Wahlsieg bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr konnte Fritz Kuhn im „Ländle“ einen weiteren Meilenstein setzen. Doch der Erfolg löst auch eine neuerliche Flügeldebatte aus. Sowohl Kuhn als auch der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann gehören zum realpolitischen Flügel der Partei. „Die Grünen sind im Land schon lange kein Bürgerschreck“, sagt der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider. „Sie gewinnen nicht nur Stimmen aus dem bürgerlichen Lager, sondern sind selbst Bestandteil des bürgerlichen Lagers.“ Die Grünen würden massenhaft Wähler aus klassischen CDU-Milieus abgreifen. Parteichef Cem Özdemir möchte nun analysieren, ob das Erfolgsmodell auch auf andere Teile der Republik übertragbar ist. Dabei hat er allerdings ein Problem: Der linke Parteiflügel hat ihn schon längst zum Verzicht auf die Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl gedrängt. Die Partei sei zu bürgerlich geworden, heißt es.

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