© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

„Sollte der Euro fallen, wird Europa nicht untergehen“
Wirtschaftsliteratur: Der Ökonom Hans-Werner Sinn liefert eine Fundamentalkritik am System der Währungsunion
Markus Brandstetter

Der Euro sollte Europa Frieden, Freiheit und Wohlstand bringen. Gebracht hat er Schulden und Arbeitslosigkeit, Streit und Haß. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg standen sich die Nationen Europas so unversöhnlich gegenüber wie heute. „Aus Freunden und Nachbarn wurden Gläubiger und Schuldner“, schreibt Hans-Werner Sinn in seinem neuen Buch, in dem es keineswegs nur um die Falle der Target-Kredite geht, sondern um die ganze Euro-Krise. Wie konnte es so weit kommen?

Alles beginnt 1995, als der Europäische Rat in Madrid festlegt, wie, wann und wo der Euro physisch eingeführt wird. Ab da wissen Banker, Finanziers Vermögensverwalter und Investoren, daß es ab 1999 in der Euro-Zone keine Wechselkursrisiken mehr geben wird. Also gleichen sich die Zinsen im späteren Euro-Raum sehr rasch aneinander an. Griechenland, Portugal, Italien, Spanien – Länder, die vor dem Euro weit über zehn Prozent an Zinsen auf Staatsanleihen und immer fünf Prozent mehr als Deutschland bezahlen mußten, bekommen die deutschen Niedrigzinsen.

In wenigen Jahren fließen aus Deutschland, Holland, Frankreich und Italien ungeheure Kreditsummen in die Südländer und nach Irland. Das billige Geld löst einen Ausgaben- und Konsumrausch aus. In Portugal und Griechenland werden die Beamtengehälter verdoppelt, Autos und Konsumgüter angeschafft wie nie zuvor. In Spanien und Irland fließen die Gelder an Banken und Sparkassen, die sie als billige Hypothekenkredite weiterreichen. Fast jeder baut sich ein Haus oder kauft eine Wohnung, viele kaufen gleich zwei oder drei, Eigenkapital ist keines nötig, und mit der Hypothek für die Wohnung wird der neue Geländewagen gleich mitfinanziert. Jeder fünfte Spanier und Ire macht in Immobilien, alle sind plötzlich Bauträger, Makler, Planer und Vermittler.

Madrid, Barcelona und Dublin werden mit Gürteln aus Wohnblöcken und Reihenhäusern umgeben, die keiner braucht, in die aber jeder investiert. Dadurch steigen in den Südländern und Irland die Preise, Löhne und Gehälter um 50 bis 70 Prozent, ohne daß sich die Produktivität erhöhte, während deutsche Exporte relativ dazu günstiger werden und die Produktivität stetig zunimmt. Die heutigen Krisenländer importieren Jahr für Jahr viel mehr als sie exportieren – und das alles auf Pump.

2007 ist die Party auf einen Schlag vorbei. Die von der Wall Street ausgelöste Finanzkrise führt in Europa zu Mißtrauen unter (privaten) Banken, Versicherungen und Investmentfonds. Niemand kauft mehr die Staatsanleihen der Südländer, ihren Banken werden die Kredite gekündigt, das Geld fließt aus dem Süden in den Norden zurück. Schon im Herbst 2007, ein Jahr vor der Lehman-Brothers-Pleite, stehen der „Keltische Tiger“ Irland sowie die langjährigen EU-Armenhäuser Portugal und Griechenland finanziell auf der Kippe. Und lange bevor es Rettungsschirme und eine Troika gibt, eilt die Europäische Zentralbank (EZB) zu Hilfe – obwohl ihr das durch den Vertrag von Maastricht ausdrücklich untersagt ist.

Die EZB weist die nationalen Notenbanken an, in großem Stil Staatspapiere der Krisenländer zu kaufen und ihren Geschäftsbanken – gegen wertlose Pfänder – großzügigste Refinanzierungskredite zu gewähren. Aus diesen Refinanzierungskrediten werden nach und nach die Target-Salden entstehen. Der Präsident der Deutschen Bundesbank und ihr Chefvolkswirt treten deswegen binnen weniger Monate zurück, ohne die wahren Gründe öffentlich zu nennen. Die Deutsche Bundesbank stimmt gegen die illegalen Rettungsaktionen der EZB, wird aber ständig überstimmt.

Obwohl die EZB bereits 2010 für eine Billion Euro weitgehend wertlose Staatsanleihen der Krisenländer angekauft und Refinanzierungskredite ausgereicht hat, reicht das noch immer nicht. Im Mai 2010 wird für die Krisenstaaten ein vorläufiger Rettungsschirm installiert, der aus immer neuen Hilfsprogrammen mit nichtssagenden Akronymen (EFSF, ab 2013 ESM) besteht. Mitte Oktober 2012 haben die an Griechenland, Irland, Portugal, Zypern, Italien und Spanien ausgezahlten Hilfen die Höhe von 1.404 Milliarden Euro erreicht. Aber auch das ist nicht genug – zugesagt sind 1.534 Milliarden Euro, das Gesamtpotential liegt bei 2.217 Milliarden Euro. Davon haftet Deutschland heute bereits für 771 Milliarden Euro, eine Summe, die vermutlich komplett beansprucht und nie mehr zurückgezahlt werden wird.

Gibt es überhaupt noch eine Lösung in dieser verfahrenen Situation? Eigentlich, sagt Sinn, wäre es ganz einfach: Die Krisenländer müßten je nach Land Preise und Löhne um 20 bis 35 Prozent senken, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Nach zehn Jahren wären sie saniert und in der Lage, ihre Schulden selber zu bezahlen. Dies scheint politisch nicht durchsetzbar, also bleibt den am schwersten betroffenen Ländern Portugal und Griechenland nur der Austritt aus dem Euro, die Rückkehr zu ihren alten Währungen und dann die Abwertung. Das wäre zwar schmerzhaft, aber immerhin eine praktikable Lösung. Alles andere, Fiskalunion, Bankenunion und Euro-Bonds, so Sinn, würde die Krise nur verschlimmern, da es das Grundübel – den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der Südländer auf den Weltmärkten – nicht an der Wurzel anpacken und die Agonie nur verlängern würde.

Hans-Werner Sinn zählt zu Deutschlands renommiertesten Ökonomen, ihr streitbarster ist er sowieso. Die „Target-Falle“ ist sein bisher bestes Buch, eine intellektuelle Tour de Force, die dem Leser Ursachen, Verlauf und Lösungsmöglichkeiten der Euro-Krise umfassend, faktenreich und eindringlich darlegt. Dennoch ist dies kein einfaches Buch; das zeigt ein Blick auf die vielen Statistiken, Grafiken und die ausführlichen Fußnoten mit reichen Quellenangaben. Aber wer Geduld und intellektuelle Disziplin mitbringt, die Argumentationskette des Autors sorgfältig mitzudenken, der hat am Schluß viel von der Euro-Krise verstanden.

ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München

www.cesifo-group.de

 

Target-Kredite im Euro-System

„Target 2“ heißt das elektronische System, mit dem im Euro-Raum grenzüberschreitende Zahlungen zwischen Banken abgewickelt werden. Beispiel: Ein griechischer Getränkeabfüller kauft eine Flaschenabfüllanlage in Deutschland und exportiert Getränke nach Italien. Dabei entstehen zwei Zahlungsströme, die durch Banken unter Mitwirkung der Europäischen Zentralbank (EZB) ausgeführt werden. Normalerweise gleichen sich alle grenzüberschreitenden Zahlungen gegenseitig aus, weshalb die Zahlungsbilanzsalden früher klein waren. Seit Beginn der Euro-Krise erhalten die EU-Südländer jedoch keine privaten Bankkredite mehr, Kapital aus einst gewährten Krediten fließt zurück nach Deutschland. Da die Südländer aber weiter viel mehr importieren als sie exportieren, benötigen sie zum Ausgleich ihrer Handelsbilanzen nach wie vor Kredite, die sie jedoch nicht mehr bekommen. Also lassen sie über ihre Notenbanken via EZB bei der Bundesbank gewissermaßen „anschreiben“. Die dadurch aufgelaufenen Schulden nennt man „Target-Kredite“. Sie machen 956 Milliarden Euro (68 Prozent) aller Hilfsmittel an die Krisenländer aus und werden vermutlich nie mehr zurückgezahlt. Deutschlands heutiger Anteil an den Taget-Krediten in Höhe von 410 Milliarden Euro stellt zirka 36 Prozent seines gesamten Nettoauslandsvermögens dar – eine Summe, die als komplett verloren gelten muß.

Deutscher Haftungspegel im EZB-System: www.cesifo-group.de

Hans-Werner Sinn: Die Target-Falle – Gefahren für unser Geld und unsere Kinder. Carl Hanser Verlag, München 2012, gebunden, 417 Seiten, 19,90 Euro

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