© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

Pankraz,
F. Meinecke und die deutsche Katastrophe

Er war der Inbegriff eines altdeutschen, „wilhelminischen“ Geschichtsprofessors: Friedrich Meinecke (geboren 1862 in Salzwedel, gestorben 1954 in Berlin), dessen hundertfünfzigster Geburtstag am 30. Oktober ansteht. Sein Vortrags- wie sein Schreibstil waren blendend, er war nicht uneitel, dem Repräsentieren nicht abgeneigt, doch ungeheuer fleißig, an jeder Neuerung fundamental interessiert und dennoch fest der Tradition verbunden, Liberaler und Vaterlandsfreund, Patriot und Weltbürger.

Friedrich Althoff, der legendäre Genie-Spürhund und Wissenschaftssekretär Wilhelms II., hatte den jungen Privatdozenten entdeckt und dafür gesorgt, daß er einen Lehrstuhl an der Prestige-Universität Straßburg erhielt. Es folgten ein Zwischenspiel in Freiburg im Breisgau und dann der Ruf nach Berlin, wo Meinecke bis zu seiner Emeritierung 1932 lehrte und danach auch als schreibender Pensionär wohnen blieb. Nach 1945 und nach der Spaltung Berlins wurde er erster Rektor der neugegründeten Freien Universität (FU), deren Vorzeigeschild und Ehrenbürger er bis zu seinem Tod 1954 blieb.

Seine Bücher, vor allem die Triade „Weltbürgertum und Nationalstaat“ (München 1908), „Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte“ (Leipzig 1924) und „Die Entstehung des Historismus“ (Berlin 1936), machten Wissenschaftsgeschichte. In ihnen dokumentierte sich mit größter Überzeugungskraft die „organische“ angeblich „typisch deutsche“ Geschichtsbetrachtung, wonach der Ablauf der Ereignisse nicht die Folge irgendwelcher verborgener „Gesetzmäßigkeiten“ ist, sondern stets voll „aus sich selbst“ erklärt werden muß, eine, wie es Meinecke einmal ausdrückte, „Zeit-Identität sui generis“.

Heute, im „aufgeklärten“, primär auf Denunziation und Schuldzuweisung bedachten Politologenbetrieb unserer Tage, ist von derlei Feinheiten nicht mehr die Rede. Kein Student liest mehr „Die Entstehung des Historismus“, höchstens noch „Die deutsche Katastrophe“, ein Meinecke-Buch, das erstmals 1946 erschien und eine Art „Vergangenheitsbewältigung“ betrieb. Für so etwas fühlen sich inzwischen natürlich, wie bekannt, Krethi und Plethi zuständig, und so geriet Meinecke voll zwischen die Fronten.

Der Historiker hatte in der „Katastrophe“ versucht, die totale Niederlage des Deutschen Reiches in einen weiten raumzeitlichen Rahmen zu rücken, wobei auch subjektive Ausdrücke der Trauer, des Kummers und des Zorns nicht gänzlich unterdrückt wurden. So machte er sich zum Spielball politischer, linker wie rechter Kräfte. Bis zu seinem Tod hielt man sich noch einigermaßen zurück, aber je mehr Zeit verging, um so harscher wurde die Polemik.

Linke werfen ihm nun mangelnde Konsequenz, Festhalten an „alten Klischees“ und sogar Antisemitismus vor. „Zu denen“, habe er geschrieben, „die“ (nach dem Ersten Weltkieg) „den Becher der ihnen zugefallenen Macht gar zu rasch und gierig an den Mund führten, gehörten auch viele Juden. Nun erschienen sie allen antisemitisch Gesinnten als die Nutznießer der deutschen Niederlage und Revolution.“ Solche Zitat-Erinnerungen genügen heutzutage, um einen großen Gelehrten ein für allemal zu stigmatisieren.

Auf der rechten Seite beschuldigt man Meinecke, die ideologische Propaganda der deutschen Kriegsgegner, also deren ewige Rede über einen „unheilvollen deutschen Sonderweg“ oder über die „Unheilslinie von Luther über Friedrich den Großen und Bismarck bis Hitler“ nachträglich aufgenommen und bestätigt zu haben. Das wirkt fast nicht weniger stigmatisierend als das linke Gezeter und bedarf – findet Pankraz – dringend der Widerrede.

Zunächst wäre festzuhalten, daß nach ’45 auch viele andere Geistesgrößen von konservativer Struktur Töne wie Meinecke angeschlagen haben. Arnold Gehlen etwa sprach in Hinblick auf Deutschland von der „widerlegten Nation“, Ernst Niekisch von der „deutschen Daseinsverfehlung“, Ernst Jünger konstatierte im Brustton der Endgültigkeit: „Von einer solchen Niederlage erholt man sich nicht.“

Im Vergleich dazu nimmt sich Meineckes „Katastrophe“ geradezu überbehutsam aus. Es ist ein Tatsachenbuch, Meinungen werden durch die Bank mit einem leise fragenden, ambivalenten Hintergrundgeräusch ausgestattet. Statt um Luther und um Daseinsverfehlung geht es um die Französische Revolution von 1789 und um die „neuen Massen“, die seit damals politisch mobilisiert wurden und einen ganz eigenen, gewalttätig-unorganischen Stil praktizierten, der sich höchst unheilvoll ausgewirkt habe.

Bereits im Preußen des 18. Jahrhunderts, schreibt Meinecke, hätten als Folge davon stets zwei Seelen, eine „kulturfähige“ und eine „kulturwidrige“ mit- und gegeneinander gelebt. Der „merkwürdig penetrante Militarismus“, der aus dieser Zeit stamme, sei im Kaiserreich in das bürgerliche Leben eingedrungen, doch Bismarck habe es verstanden, einen Ausgleich herzustellen und ihn sogar für staatliche und bürgerliche Prosperität nutzbar zu machen. Bismarck sei eben eine „Grenz­erscheinung“ gewesen, unter dem „die Synthese von Macht und Kultur“ noch gelang – im Gegensatz zu Hitler.

Sehr interessant auch die Ausführungen über Homo sapiens und Homo faber in der „Katastrophe“. Die einseitige Ausrichtung auf den rationalen Aspekt des Homo faber habe in der Gesellschaft der industriellen Moderne zur Unterdrückung der irrationalen Seelentriebe geführt. Der „Hitlerismus“ nun, so Meinecke, „war in massenpsychologischer Perspektive eine eruptive Gegenreaktion des vernachlässigten Seelenteils. Hinzu trat eine Ethik des Nationalegoismus, die zwar grundsätzlich schon bei Machiavelli angelegt war, aber erst im Zeitalter der Massen ein verheerendes Potential entfaltete.“

Wer so schreibt und argumentiert, noch dazu in einer Zeit (1946), in der es tagtäglich ums nackte Überleben geht und man als Deutscher links wie rechts der Zonen- und Sektorengrenzen seine Zunge hüten muß, der kann nicht ganz schlecht sein. Friedrich Mei­necke war sogar sehr gut.

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