© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

Auf Überrumpelung gesetzt
Vor neunzig Jahren wurde Benito Mussolini Regierungschef in Italien: Faschistische Propaganda vom „Marsch auf Rom“ als revolutionärer Akt ist ein Mythos
Karlheinz Weissmann

Am 27. Oktober 1932 richtete Benito Mussolini eine Botschaft an die „Schwarzhemden ganz Italiens“. Anlaß war der Jahrestag der „faschistischen Revolution“, getragen – so die Formulierung Mussolinis –, von einem Bündnis aus Soldaten, Land- und Industriearbeitern. Gemeint war mit dem Begriff „faschistische Revolution“ der „Marsch auf Rom“, der dazu geführt hatte, daß König Viktor Emanuel III. Mussolini am 30. Oktober 1922 zum Ministerpräsidenten Italiens ernannte. Die Vorstellung von einem quasi-proletarischen Umsturz entsprach allerdings nicht den Tatsachen, eher handelte es sich bei dieser Machtübernahme um ein Zusammenspiel aus Massendemonstration, Bluff, Kollaps des liberalen Systems und legaler Regierungsbildung.

Die Faschisten, die in den letzten Oktobertagen 1922 auf die italienische Hauptstadt marschierten, waren jedenfalls nur schlecht bewaffnet, undiszipliniert und einer Auseinandersetzung mit der Armee keinesfalls gewachsen. Deren Offizierskorps galt als königstreu, wenngleich es in den mittleren Rängen viel Sympathie für Mussolinis Männer gab, zu denen hochdekorierte Veteranen des nicht lange zuvor beendeten Weltkriegs gehörten. Der König war letztlich unsicher, ob seine Truppen das Feuer auf die faschistischen Verbände eröffnen würden, die mit über 30.000 „Schwarzhemden“ den Sperren näher kamen, die man rund um Rom errichtet hatte, und gab nach.

Er empfing Mussolini nach einigem Zögern und betraute ihn dann mit dem Amt des Regierungschefs. Daß es sich dabei um den Beginn einer neuen Ära handeln sollte, war der Zusammensetzung des Kabinetts allerdings nicht anzumerken: Zwar übernahm Mussolini neben der Ministerpräsidentschaft provisorisch die Ressorts des Inneren und des Äußeren, aber sonst wurden nur drei weitere Ministerien an Faschisten vergeben, eines an einen Nationalisten, zwei an Mitglieder der katholischen Volkspartei, zwei an Demokraten, eines an einen Liberalen und eines an einen „Demosozialen“, zwei an Militärs und ein letztes an den Unabhängigen Giovanni Gentile, einen schon damals renommierten Philosophen.

Die Struktur der Regierung sprach gegen die Vorstellung eines Staatsstreichs und gleichzeitig für die Vorsicht Mussolinis, der zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs der unbestrittene Duce der späteren Zeit war. Das hatte einerseits mit seinem windungsreichen politischen Weg zu tun – vom Linksradikalen, Kronprinzen der sozialistischen Partei Italiens und Kriegsgegner zum Befürworter des Kriegseintritts („Interventionisten“), Dissidenten der Linken, Anhänger eines revolutionären Kurses, getragen von den produktiven Klassen, Führer einer neuartigen, nationalistischen und antibolschewistischen Bewegung –, aber mehr noch mit der komplizierten Entwicklung des Faschismus.

Denn als die Fasci di Combattimento – die „Kampfbünde“ – am 23. März 1919 gegründet wurden, handelte es sich um eine zahlenmäßig schwache Organisation mit unklarer Zielsetzung. Einige Zeit schwankte Mussolini damals zwischen dem Plan, ins Lager der Linken zurückzukehren und der Idee, seine Anhänger mit denen der katholischen Volkspartei und dem gemäßigten Flügel der Sozialisten zu verschmelzen, bevor ihm das „rote Doppeljahr“ mit seinen Bürgerkriegsdrohungen und der unklaren Haltung der italienischen Sozialisten, die sehnsüchtig nach Rußland starrten, neue Unterstützung aus den Reihen des kleinen und mittleren Bürgertums zuführte. Das und das dynamische Wachstum des „Agrarfaschismus“ – einer vor allem von Landarbeitern getragenen, aber „weißen“ Strömung – führte letztlich dazu, daß sich der Faschismus immer deutlicher nach rechts orientierte und zunehmend aggressiver wurde.

Phasenweise konnte es so scheinen, als ob die Ras, die regionalen Führer wie Dino Grandi oder Roberto Farinacci, mit ihren Squadre („Schwadronen“) Mussolini zum „Gefangenen“ (Ernst Nolte) seiner eigenen Bewegung machten, und noch am 7. Juli 1922 schrieb Mussolini mit drohendem Unterton in einem Artikel seiner Zeitung Popolo d’ Italia: „Kann der Faschismus sich von mir trennen? Sicher, aber ich kann mich auch vom Faschismus trennen. Es ist Platz für jedermann in Italien: auch für dreißig Faschismen, das heißt, schlußendlich, für keinen.“

Wenn Mussolini bei der Gelegenheit davon sprach, daß der Faschismus zu seinen „Ursprüngen“ zurückkehren müsse, war das aber nur eine Floskel, er selbst hatte die „Überpartei“ der Fasci – so die Formulierung in deren erstem Programm – in eine Partei, den Partito Nazionale Fascista (PNF) überführt. Er selbst war es gewesen, der die Aufgabe vieler sozialistischer und syndikalistischer Ideen betrieb, und er hatte der Forderung nach einer Republik abgeschworen. Andererseits war es ihm bei zwei Parlamentswahlen nicht gelungen, überzeugende Erfolge zu erreichen, und seine parteiinternen Gegner drängten gerade deshalb auf eine Revolution, weil sie fürchteten, daß die Zeit gegen den Faschismus arbeite. Eine durchaus berechtigte Sorge, die sich bei Mussolini aber die Waage hielt mit jener anderen, daß der PNF viel zu schwach sei, um im Ernst an einen Putsch zu denken.

Das erklärt viel von seinem Zögern in den letzten Wochen vor dem Marsch auf Rom, seinem Aufenthalt in Mailand, nahe der Schweizer Grenze, in der entscheidenden Phase, der Kompromißbereitschaft bei den Verhandlungen mit der politischen wie militärischen Spitze Italiens. Im letzten erwies sich die von ihm betriebene „Transformation“ (Renzo De Felice) des Faschismus aber doch als dienlich, insofern die Mehrheit der Italiener in seiner Partei keine Umsturzbewegung nach linkem Muster mehr sah, sondern einen Verbündeten im Kampf um die Aufrechterhaltung der Ordnung.

Auch daran wird deutlich, daß es Grenzen für die Parallelisierung zwischen dem Marsch auf Rom und Hitlers Putschversuch vom 8. und 9. November 1923 gibt. Denn unverkennbar sind die Parallelen zwischen Hitlers „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 und derjenigen Mussolinis sehr viel stärker. Hier wie dort spielte eine verunsicherte konservative Staatsführung eine ausschlaggebende Rolle, hier wie dort die Bereitschaft, den Eindruck einer totalen Veränderung zu meiden und eher den Eindruck von Mäßigung zu erwecken, hier wie dort gab es das Problem mit den Intransigenten in den eigenen Reihen, die eine „wahre“ Revolution verlangten, hier wie dort die Entschlossenheit der Führer, das Ziel nur schrittweise anzusteuern.

Allerdings sollen damit die Unterschiede nicht geleugnet werden. Einen Akt wie die Liquidierung der SA-Führung um Ernst Röhm hat es in Italien nicht gegeben, Mussolini setzte immer sehr stark auf die Einbindung der Opposition innerhalb der Partei. Letztlich hat ihn diese Mäßigung aber auch die Macht gekostet, weil er nicht verhindern konnte, daß sich während des Zweiten Weltkriegs im „Großrat des Faschismus“ eine Fronde gegen ihn bildete und derselbe Monarch, der ihn 1922 eingesetzt hatte, am 25. Juli 1943 seinen Sturz vollzog. Und auch die Konkurrenten Mussolinis aus der Anfangszeit spielten noch einmal eine Rolle: Grandi beantragte die Absetzung Mussolinis, Farinacci gehörte zu den letzten Getreuen des Duce und wurde wie dieser durch Partisanen ermordet.

Foto: Roberto Marcello Baldessari, Trikolore-Spirale über Rom, Öl auf Leinwand 1923; Benito Mussolini 1922 als Ministerpräsident: Anfängliche Versuche, den Eindruck von Mäßigung zu erwecken

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