© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/12 02. November 2012

„Viele ungeklärte Punkte“
Rechtsextremismus: Vor einem Jahr  og die Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ auf, der zehn Morde zur Last gelegt werden
Marcus Schmidt

Als am 4. November vergangenen Jahres zwei flüchtige Bankräuber in Eisenach ums Leben kamen, ahnte niemand, daß sich hieraus eine der größten Krisen der deutschen Sicherheitsbehörden entwickeln würde.

Doch noch am selben Tag fand die Polizei in dem Wohnmobil der beiden Räuber Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, in dem Mundlos Böhnhardt und sich selbst erschossen haben soll, die Dienstwaffe einer in Heilbronn ermordeten Polizistin. Als dann am 10. November in der von der mutmaßlichen Komplizin der beiden Täter, Beate Zschäpe, in Brand gesetzten Zwickauer Wohnung eine Waffe vom Typ Ceska 83 gefunden wurde, die als Tatwaffe der bis dahin als „Dönermorde“ bezeichneten Mordserie an neun Ausländern identifiziert werden konnte, war der Skandal perfekt: Offenbar waren rechtsextremistische Terroristen jahrelang mordend durch das Land gezogen, ohne entdeckt zu werden. Seitdem sehen sich Polizei und Verfassungsschutz, die hinter den Ceska-Morden die Organisierte Kriminalität vermutet hatten, dem Vorwurf ausgesetzt, sie seien auf dem „rechten Auge“ blind.

Trotzdem bleibt das Bild von den Taten und Motiven der „Zwickauer Terrorzelle“ bis heute äußerst bruchstückhaft und bietet reichlich Stoff für Spekulationen. Grund genug für eine Bestandsaufnahme zum Jahrestag.

 

Die Täter

Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, die zusammen die Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) gebildet haben sollen, entstammten der rechtsextremistischen Szene Thüringens. Nachdem die Polizei 1998 in einer von ihnen angemieteten Garage in Jena Sprengstoff gefunden hatte, tauchten die drei unter. Noch 2004 wurden sie namentlich in einem internen Papier des Bundesamtes für Verfassungschutz (BfV) in einer Liste potentiell gefährlicher Rechtsextremisten aufgeführt. Das Ermittlungsverfahren gegen das Trio wurde allerdings im Sommer 2003 wegen Verjährung eingestellt.

 

Die Taten

Dem Trio werden zehn Morde an neun ausländischen Kleinunternehmern und einer Polizistin sowie zwei Sprengstoffanschläge in Köln zur Last gelegt. Um ihr Leben im Untergrund zu finanzieren, sollen sie 14 Banküberfälle begangen haben.

Da Beate Zschäpe, die sich am 8. November 2011 der Polizei stellte, schweigt, sind die Ermittler auf Indizien angewiesen, um die Täterschaft der mutmaßlichen Terroristen zu belegen. Als wichtigstes Verbindungsglied zwischen den als Hinrichtungen charakterisierten Morden und den drei Rechtsextremisten gilt die im Brandschutt der von Zschäpe angezündeten Zwickauer Wohnung gefundene Waffe der Marke Ceska 83. Laut Bundeskriminalamt (BKA) wurde sie bei neun Morden verwendet.

Als weiteres wichtiges Indiz gilt die von Zschäpe nach dem Auffliegen des NSU verschickte DVD mit einem Bekenner-Video, in dem auch Tatortfotos, die die Täter bei den ersten drei Morden gemacht haben, enthalten sind. Ansonsten gibt es laut dem Vizepräsidenten des BKA, Jürgen Maurer, „noch unglaublich viele ungeklärte Punkte“.

 

Die Unterstützer

Nach dem Auffliegen der Zwickauer Terrorzelle wurden neben Beate Zschäpe fünf weitere Personen wegen des Verdachts der Unterstützung der Terrorgruppe inhaftiert. Am schwersten wiegt der Vorwurf gegen Ralf Wohlleben, dem die Ermittler eine zentrale Rolle bei der Beschaffung von Waffen für das Trio zuschreiben. Holger G. soll eine Waffe transportiert haben und den dreien Ausweispapiere überlassen haben. Der mittlerweile aus der rechtsextremistischen Szene „ausgestiegene“ Carsten S. hat gestanden, die Ceska gekauft und dem Trio übergeben zu haben. André E. wiederum soll bis zuletzt Kontakt zu der Zelle gehalten haben und hat mutmaßlich bei der Anmietung von Fahrzeugen und der Beschaffung von Bahncards geholfen. Matthias D. war Hauptmieter der letzten beiden Wohnungen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Von diesen Personen befindet sich derzeit neben Zschäpe nur noch Ralf Wohlleben in Haft. Die anderen Beschuldigten wurden auf Anweisung des Bundesgerichtshofes aus der Untersuchungshaft entlassen.

 

V-Leute

Bislang sind aus dem Umfeld des NSU mindestens fünf V-Leute bekannt. Darunter ist der ehemalige Chef des „Thüringer Heimatschutzes“, Tino Brandt, der von 1994 bis 2001 für den Verfassungsschutz in Thüringen gespitzelt hat.

Brisant ist auch der Fall Thomas R., der 1998 auf einer Adreßliste von Uwe Mundlos auftaucht. Er soll Kontakte zur Szenezeitschrift Weisser Wolf gehabt haben, in der 2002 der NSU erstmals öffentlich erwähnt wurde. („Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen Der Kampf geht weiter…“) R. gilt zudem als Mitbegründer des Ku-Klux-Klan in Deutschland, dem auch zwei Kollegen der in Heilbronn ermordeten Polizistin Kiesewetter angehörten. Zwischen 1997 und 2007 soll R. als „Corelli“ für das BfV als V-Mann aktiv gewesen sein.

Ende September sorgte dann die von einem Bundesanwalt geäußerte Vermutung für Aufregung, daß auch Ralf Wohlleben möglicherweise V-Mann war. Eine Bestätigung fand sich laut Bundes-innenministerium bislang nicht. Zuvor war bekannt geworden, daß der Militärische Abschirmdienst 1994 offenbar vergeblich versucht hatte, Mundlos als V-Mann anzuwerben.

 

Aktenvernichtungen

Im Juli wurde bekannt, daß noch nach dem Auffliegen des NSU im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz Akten zum Rechtsextremismus vernichtet wurden. Das Brisante an der Aktion „Konfetti“ am 11. November 2011, nach deren Aufdeckung im Sommer BfV-Präsident Heinz Fromm zurücktrat: Bei den geschredderten Akten handelte es sich um Unterlagen zum „Thüringer Heimatschutz“, der Keimzelle des NSU. Laut Behörden konnten die Akten rekonstruiert werden und enthielten keinen Bezug zur „Zwickauer Zelle“.

Ein Untersuchungsbericht des Bundesinnenministeriums hat jetzt allerdings aufgedeckt, daß weit mehr Akten vernichtet wurden als bisher bekannt war. Selbst im NSU-Untersuchungsausschuß wachsen daher die Zweifel an der Einschätzung, daß die rund 300 vernichteten Akten tatsächlich keinen Bezug zum NSU hatten.

 

Die Tatwaffe

Bei neun der zehn Morde, die dem NSU zugeschrieben werden, wurde eine Waffe vom Typ Ceska 83 verwendet. Die Waffe war bereits vor dem Auffliegen des Trios die wichtigste Spur der Ermittler, die anhand des auf der Ceska montierten Schalldämpfers den Kreis auf 55 potentielle Tatwaffen eingrenzen konnten. Diese Spur führte schließlich zu einem Händler in der Schweiz. Dennoch konnte das BKA bis heute die Lücke vom Verkäufer bis zur Weitergabe an die Täter „beweistechnisch“ nicht schließen. „Aber wir glauben zu wissen, wie es gelaufen ist“, sagt BKA-Vize Maurer.

 

Der Prozeß

Noch in diesem Jahr, möglicherweise bereits im November, wird mit einer Anklage gegen Zschäpe und weitere Beschuldigte gerechnet. Der Prozeß könnte dann im März 2013 beginnen, vermutlich vor dem Landgericht München, da in Bayern fünf der zehn Morde begangen wurden. Zschäpe wird die Gründung einer terroristischen Vereinigung und besonders schwere Brandstiftung vorgeworfen. Interessant wird sein, ob die Bundesanwaltschaft genügend Beweise findet, um Zschäpe auch eine Beteiligung an der Mordserie nachzuweisen.

 

Offene Fragen

Warum sind die Sicherheitsbehörden der „Zwickauer Zelle“, die dreizehn Jahre im Untergrund gelebt und dabei zehn Morde begangen haben soll, nicht auf die Spur gekommen? Dies ist die zentrale Frage, der sich Polizei und Verfassungsschutz gegenübersehen. Denn es gab immer wieder Hinweise, die zu den Tätern hätten führen können.

Keine plausible Erklärung gibt es bis heute, nach welchen Kriterien die Tatorte ausgewählt wurden und warum die Mordserie 2007 endete. Der Mord in Heilbronn ist außerdem völlig untypisch für die Serie. So wurden andere Waffen als bei den vorherigen Taten verwendet und Teile der Ausrüstung sowie die Dienstwaffen der Opfer von den Tätern mitgenommen. Bis heute halten sich Vermutungen, daß die aus Thüringen stammende ermordete Polizistin kein Zufallsopfer war.

Ungewöhnlich ist trotz aller Emittlungen nach wie vor der Umstand, daß ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes 2006 nur Sekunden vor dem Mord in Kassel den Tatort verlassen hat. Dieser Fall, die Aktenvernichtungen im Kölner Bundesamt und die V-Leute im Umfeld des NSU führen zu der nur schwer zu beantwortenden Frage: Was wußten die Geheimdienste wirklich?

 

Die Opfer

9. September 2000

In Nürnberg wird der 38 Jahre alte Blumenhändler Enver Şimşek durch Schüsse aus zwei verschiedenen Waffen, darunter die Ceska 83, erschossen.

13. Juni 2001

Ebenfalls in Nürnberg fällt der Änderungsschneider Abdurrahim Özüdoğru (48) der Mordserie durch zwei Kopfschüsse zum Opfer.

27. Juni 2001

In Hamburg wird der 30jährige Gemüsehändler Süleyman Taşköprü mit drei Kopfschüssen aus zwei Waffen erschossen.

29. August 2001

Der 38 Jahre alte Obst- und Gemüsehändler Habil Kılıç stirbt in München in seinem Laden durch zwei Kopfschüsse.

25. Februar 2004

Nach einer längeren Pause schlagen die Täter in Rostock zu und töten mit drei Kopschüssen den türkischen Dönerverkäufer Mehmet Turgut (24).

9. Juni 2005

In Nürnberg wird der 50jährige İsmail Yaşar mit fünf Schüssen, davon zwei in den Kopf, in seinem Dönerimbiß ermordet.

15. Juni 2005

In München wird der 41 Jahre alte griechische Schlüsseldienstmitarbeiter Theodoros Boulgarides Opfer der Mordserie. Die Täter töten ihn mit drei Kopfschüssen.

4. April 2006

Der Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık (39) wird in Dortmund durch zwei Schüsse in den Kopf getötet.

6. April 2006

In Kassel wird der 21jährige Halit Yozgat, der ein Internetcafé betreibt, von den Tätern durch zwei Kopfschüsse ermordet.

25. April 2007

Als mutmaßlich letztes Opfer der Mordserie stirbt in Heilbronn die 22 Jahre alte Polizistin Michèle Kiesewetter durch einen Kopfschuß. Ihr 24jähriger Kollege überlebt schwer verletzt. Die Täter verwendeten zwei Waffen, darunter nicht die Ceska.

Foto: Tatortkarte und die in der durch das Feuer fast völlig zerstörten Wohnung in Zwickau (links) sichergestellte Tatwaffe vom Typ Ceska 83: Vor allem das Verhalten des Verfassungsschutzes führt zu der Frage, ob die Geheimdienste Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe näher auf den Fersen waren als bislang bekannt.

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