© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/12 02. November 2012

Wegbereiter des modernen Rechtsstaats
Gleichheit aller staatlichen Glieder vor dem Gesetz: Friedrich der Große und das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“
Jost Bauch

Das „Friedrichjahr“ anläßlich des dreihundertsten Geburtstags von Friedrich dem Großen, der am 24. Januar 1712 in Berlin geboren wurde, neigt sich dem Ende zu. Entsprechend groß war die Zahl der Würdigungen und Veröffentlichungen, die aber zumeist nur einen Teilausschnitt der Wirkungsgeschichte dieser komplexen Persönlichkeit wiedergeben. Im Fokus steht der „Alte Fritz“ als Kriegsherr, seine innenpolitischen Leistungen werden zumeist nur beiläufig erwähnt.

Dabei sind seine innenpolitischen Reformen für den preußischen Staat genauso beachtens- und bewundernwert wie seine militärischen Erfolge. So wurde in seiner Regierungszeit das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“ erarbeitet, ein Gesetzeswerk, das im Übergang vom altständischen Patrimonialstaat zum institutionellen Flächenstaat die Grundlagen für eine rechtsstaatliche Entwicklung in Preußen legte. Zwar setzten die Bemühungen um eine Gesamtkodifikation für die Preußischen Staaten bereits unter Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1714 ein, doch erst unter Friedrich II. setzten ab 1746 neue Anstrengungen ein, um ein juristisches Gesamtwerk zu schaffen.

Friedrich forderte ein „deutsches allgemeines Landrecht, welches sich bloß auf die Vernunft und Landesverfassungen gründet“ und beauftragte den Chef der Justiz Samuel Freiherr von Cocceji mit dem Projekt des „Corporis Juris Fridericiani“, das dann von den Reformern Johann Heinrich Casimir Graf von Carmer und Carl Gottlieb Svarez weitergeführt wurde. Die Arbeiten zogen sich hin, so daß Friedrich die Vollendung des Werkes nicht mehr erleben konnte. Das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR)“ trat unter Friedrich Wilhelm II. am 1. Juni 1794 in Kraft. Die Arbeiten am Landrecht dauerten lange, weil immer wieder Kompromisse mit dem Adel und der „altständischen societas“ gesucht werden mußten. Für ein Gesetzeswerk ungewöhnlich, hatte das Landrecht einen erzieherischen und edukativen Charakter, geradezu dialektisch sollte es die alte Ordnung teilweise anerkennen, um diese dann aber sukzessive so zu verändern, daß der Weg für die Schaffung eines modernen Staates und einer Staatsunmittelbarkeit der Untertanen frei wurde.

Um „das Revolutionäre“ des Landrechts verstehen zu können, muß man wissen, daß die frühabsolutistische Gesellschaftsordnung noch ganz auf die persönliche Lehnsordung zwischen Vasall und Lehnsherr ausgerichtet war. Wie Hagen Schulze schreibt: „Nicht Staaten auf territorialer Basis kannte das mittelalterliche Europa, sondern Personenverbände auf der Grundlage des persönlichen Lehnseids.“ Diese patrimonialgesellschaftliche Ordnung sollte durch das Landrecht in eine institutionelle staatliche und gesellschaftliche Ordnung transformiert werden. Man fing an, den Staat als Anstalt zu begreifen, der unabhängig von persönlichen Lehnsbeziehungen dauerhaft existiert.

Dieses alte Lehnsrecht bedingte, daß die Gesellschaft ständisch durchgliedert war und die preußische Gesellschaft als Aneinanderreihung von relativ unabhängigen adligen eingesessenen Gutsherrschaften anzusehen war. Die erbuntertänigen Bauern waren so primär Untertanen des jeweiligen lokalen Gutsherren, der über seine eigene Patrimonialgerichtsbarkeit und herrschaftliche Unabhängigkeit verfügte und nur locker mit anderen Gutstellen über die provinzielle Ständeversammlung verbunden war. Durch das „Indigenatsrecht“ war sichergestellt, daß alle Ämter und Positionen der ständischen Repräsentation durch Landeseingeborene zu besetzen waren. Preußen war also zu diesem Zeitpunkt ein Flickenteppich von relativ autonomen Provinzen und gutsherrlichen Kleinstherrschaften.

Der König war in dieser Konstellation nichts weiter als ein großer Grundbesitzer unter anderen Gutsbesitzern, darüber hinaus gab es keine dem König zufallende Staatsräson, er hatte kaum ein Durchgriffsrecht auf die Untertanen. Das Landrecht verfolgte nun die Intention, diesen traditionsgeleiteten Ständestaat langsam, aber kontinuierlich in einen rationalistisch organisierten absolutistischen Flächenstaat umzubauen. Wie Reinhart Koselleck betonte, galt es zunächst eine „Staatsunmittelbarkeit“ der Untertanen zu schaffen, der Staat, nicht der lokale eingesessene Gutsherr sollte den primären Zugriff auf den Untertan erhalten. Dies erreichte das Landrecht, „indem es die Eigenständigkeit der Stände in staatlichen Auftragsdienst verwandelte“.

Der Adel behielt zwar seine privilegierte Stellung, dieser aber wurde „funktionalisiert“, er hatte besondere Rechte, nur weil er die Würde des Staates repräsentierte und der Staat hatte Priorität: „Die Pflichten der Unterthanen gegen ihre Herrschaft müssen jedoch den Pflichten gegen den Staat, wenn beyde nicht zusammen bestehen können, weichen“ (ALR, Paragraph 136). Als Folge der Staatsunmittelbarkeit mischte sich das Landrecht sogleich in die Beziehung zwischen eingesessenem Adel und den erbuntertänigen Untertanen ein. Immerhin in 16 Paragraphen regelte es die Pflichten der Herrschaft, wozu gehörte, dem Gesinde Nahrung bis zur Sättigung zu reichen und es im Krankheitsfall zu versorgen, Zeit für den Gottesdienstbesuch zu gewähren und ihm nicht mehr Dienste zuzumuten, als mit seiner Gesundheit verträglich war.

Gesinde und bäuerliche Untertanen waren nach Auffassung des Landrechts keine Leibeigenen oder persönliche Sklaven des Gutsherren. Der „Preußische Sekretär“, eine kommentierende Schrift zum Landrecht, differenziert zwischen „Leibeigenschaft“ und „Erbuntertänigkeit“. Die Erbuntertänigkeit sei durch das Landrecht fixiert worden, die Dienstpflicht beziehe sich qua Landrecht nicht mehr auf den Leib des Gutsherren, sondern auf das Gut. Der Bauer sei verpflichtet, jene Dienste zu verrichten, die zum Erhalt des Gutes notwendig seien, darüber hinaus bestehe keine auf die Person des Gutsherren zentrierte Dienstpflicht.

Den Staat als Anstalt zu begreifen, heißt, auch die Rolle des Königs, als Staatsoberhaupt neu zu definieren. Das Landrecht spricht nicht vom König sondern vom „Oberhaupt im Staat“. Hier kündigt sich eine Staatsauffassung an, die zwischen dem König als fleischlicher Person und dem Amt unterscheidet. Der Staat wurde unabhängig von seinen Repräsentanten zu einer „juristischen Person“. Friedrich der Große hat die Vorstellung des Staates als einer juristischen Person vorangebracht, als er die staatlichen Domänen nicht mehr als privaten Fideikomiß des Hauses Hohenzollern auffaßte, sondern unmittelbar als Staatsgüter.

Friedrich verstand sich als Repräsentant des Staates, niemals als Staat selbst, wie etwa Ludwig XIV. (L’ etat, c’est moi). Und so bekommt das Landrecht einen „metakonstitutionellen Charakter“, indem es auch das Oberhaupt des Staates an die Rechtsordnung bindet und die Willkür seiner Machtsprüche einschränkt, denn „auch Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Oberhaupt des Staates und seinen Untertanen sollen bey den ordentlichen Gerichten (…) entschieden werden“ (ALR, Paragraph 80). So stellt Richard Dietrich in seiner „Kleinen Geschichte Preußens“ fest, daß das Landrecht die bürgerliche Rechtsgleichheit aller Glieder des „einheitlichen Untertanenverbandes“ brachte, aber nicht die sozialen Schranken zwischen den einzelnen Ständen aufhob. Auch hier zeigt sich der Kompromißcharakter des Landrechts, denn der Versuch, eine Staatsunmittelbarkeit der Untertanen zu initiieren, konnte nur bis in den genuin politischen und rechtlichen Bereich vordringen, die soziale Differenzierung blieb nolens volens der alten ständischen Ordnung überlassen.

Gleichwohl muß betont werden, daß mit dem Landrecht rechtsstaatliche Elemente Eingang in die Staatsauffassung gefunden haben. Die rationale Staatsidee der Aufklärung mit ihren vertragstheoretischen Komponenten, die Ausrichtung der Staatszwecke auf das Glück der Untertanen, die Auffassung vom Staat als juristischer Person und die Unabhängigkeit der Justiz waren allesamt Bestandteil des Landrechts. Mit dem Landrecht wurde in Preußen und Deutschland die Idee des Rechtsstaates in politische Praxis umgesetzt. Der „Alte Fritz“ hat somit nicht nur die politische Landkarte in Europa verändert, er war auch Wegbereiter der modernen Rechts- und Staatsauffassung.

Foto: Friedrich II. beobachtet die Urbarmachung sumpfiger Ländereien, kolorierter Holzstich nach dem Gemälde von C. Koch, um 1890: Mit Paragraphen, die festlegten, daß „auch Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Oberhaupt des Staates und seinen Untertanen bey den ordentlichen Gerichten entschieden werden sollen“, wird die völlig veränderte Staatsidee des aufgeklärten Herrschers dokumentiert

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